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Kommentar: Holpriger Start: Die neue Koalition sucht ihren Kurs

Kommentar

Holpriger Start: Die neue Koalition sucht ihren Kurs

Rudi Wais
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    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geht an seinen Platz, nachdem er sich zuvor eine Reihe dahinter hinsetzen wollte.
    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geht an seinen Platz, nachdem er sich zuvor eine Reihe dahinter hinsetzen wollte. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Hat Deutschland keine anderen Sorgen? Im Januar wird der Impfstoff wieder knapp, die Forschungsinstitute korrigieren ihre Konjunkturprognosen in Serie nach unten – und ein paar Flugstunden von Berlin entfernt steht das russische Militär einmarschbereit an der ukrainischen Grenze. Womit aber beschäftigen sich die Ampelparteien? Sie ändern die Sitzordnung im Bundestag, weil die Liberalen nicht mehr neben der AfD sitzen wollen.

    Den Streit um den Innenausschuss hat die Ampel selbst heraufbeschworen

    Gemessen an den großen Erwartungen, die sie selbst befeuert hat, agiert die neue Bundesregierung in ihren ersten Tagen im Amt ausgesprochen ungelenk. Macht erst einmal 60 Milliarden Euro an neuen Schulden, obwohl die FDP und ihr Finanzminister doch für finanzielle Solidität stehen wollen. Schafft fast 180 neue (und teure) Planstellen in ihren Ministerien, obwohl die schon jetzt alles andere sind als unterbesetzt. Verzettelt sich in einem sinnlosen Streit über den Umgang mit der AfD, als hänge die Qualität der politischen Arbeit davon ab, ob eine Fraktion im Plenum fünf Meter weiter rechts oder links sitzt. Auch die Aufregung über die Besetzung des Innenausschusses, dessen Vorsitz an die Rechtspopulisten gehen soll, ist nicht frei von Heuchelei. Sozialdemokraten, Grüne und Liberale hätten beim Verteilen der Ausschussvorsitze das Innere auch für sich reklamieren können, keine der drei Regierungsfraktionen aber hat es es getan.

    Komplettiert wird das Bild von einer Koalition, der noch der Blick für das Wesentliche fehlt, durch die erste Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers. Statt die großen Linien seiner Politik zu formulieren, arbeitete Olaf Scholz monoton und gewohnt detailversessen die wichtigsten Punkte aus dem Koalitionsvertrag ab. Angela Merkel hat das in ähnlichen Situationen zwar ähnlich gehalten, der Anspruch der Ampel allerdings ist ein anderer. Sie ist mit dem Versprechen angetreten, das Land aus seiner Lethargie zu reißen und mehr Fortschritt zu wagen. Der Kampf gegen die Pandemie überlagert im Moment zwar alles – von dem Elan jedoch, mit dem die drei Parteien nach der Wahl in ihre Sondierungsgespräche gestartet sind, ist nicht mehr viel zu spüren.

    Robert Habeck bastelt noch an seinem Nebenkanzleramt

    Dass es auch anders geht, hat ausgerechnet die sonst so träge SPD nach der Wahl 2013 gezeigt. Während die Kollegen von der Union noch dabei waren, ihre Büros zu beziehen und ihre Mitarbeiterstäbe zu komplettieren, hatte die neue Sozialministerin Andrea Nahles bereits nach wenigen Wochen eine große Rentenreform mit der erweiterten Mütterrente und der

    Natürlich braucht jedes neue Bündnis Zeit, sich zu sortieren. Wenn Hermann Hesse allerdings Recht hat, nach dem jedem Anfang ein Zauber innewohnt, dann ist in den wenigen Tagen seit der Vereidigung von Olaf Scholz und seiner Ministerriege schon vieles vom neuen deutschen Ampelzauber verflogen. Die Union will Lindners Schuldenhaushalt ganz prosaisch vom Verfassungsgericht überprüfen lassen, den Grünen sitzt die Klimabewegung im Nacken – und die SPD wirkt immer noch wie berauscht vom eigenen Erfolg. Oder ist das mit der Fortschrittskoalition, die Deutschland so grundlegend verändert wie seit 100 Jahren nicht mehr, am Ende nur ein großes Missverständnis? „Sie dachten“, soll Kurt Tucholsky einst gespottet haben, „sie wären an der Macht. Dabei waren sie nur an der Regierung.“

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