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Kommentar: Die Koalition bittet den Bürger zur Kasse

Kommentar

Die Koalition bittet den Bürger zur Kasse

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    Applaus für die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Aber die anfängliche Freude ist zumindest beim Bürger getrübt.
    Applaus für die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Aber die anfängliche Freude ist zumindest beim Bürger getrübt. Foto: Kay Nietfeld (dpa)

    Nehmen wir eine typische deutsche Durchschnittsfamilie. Der Vater verdient 4000 Euro brutto im Monat, die Mutter kümmert sich um die beiden Kinder, das kleine Häuschen ist noch nicht abbezahlt und im Urlaub buchen die Eltern kein komfortables Hotel, sondern eine günstige Ferienwohnung. Wenn dieser Vater und diese Mutter am 22. September die Union gewählt haben, weil die ihnen ein höheres Kindergeld und niedrigere Steuern versprochen hatte, werden sie das inzwischen vermutlich bereuen. Die neue Regierung entlastet diese Familie nämlich nicht. Sie belastet sie.

    Die große Koalition ist ein Minusgeschäft für Familien und Arbeitnehmer

    Obwohl der Vater sich bei ihr mehr als 400 Euro im Jahr an Beiträgen zur Krankenkasse spart, ist die Große Koalition für ihn ein Minusgeschäft. 216 Euro kosten die Familie nach Berechnungen des Steuerrechtlers Frank Hechtner der höhere Beitrag zur Pflegekasse und der handstreichartige Verzicht auf die Beitragssenkung bei der Rente. Knapp 900 Euro entgehen ihr, weil die Union in den Koalitionsverhandlungen weder ein höheres Kindergeld noch eine entschärfte Steuerprogression durchsetzen konnte, von der vor allem Durchschnittsverdiener profitiert hätten. Sollte die Wirtschaft im nächsten Jahr nicht weiter brummen, wächst die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit in unserer Familie sogar noch weiter: Dann müssen die Krankenkassen ihre Beiträge anheben, und zwar nur auf der Seite der Beschäftigten. Für die Arbeitgeber frieren die Koalitionäre den Beitragssatz ein.

    Der Bürger wird wieder einmal zur Kasse gebeten

    So lieb die Große Koalition den Deutschen ist, so teuer kommt sie sie einmal mehr zu stehen. Diesmal greift die neue Regierung den Bürgern zwar etwas diskreter in die Tasche als vor acht Jahren, als Union und SPD die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöhten. Unterm Strich aber addieren sich die Belastungen durch unterlassene Beitragssenkungen, verkappte Steuererhöhungen wie bei der kalten Progression oder unausweichliche Beitragserhöhungen wie bei der Pflege oft auf vierstellige Beträge im Jahr, die steigenden Strompreise noch gar nicht mitgerechnet, die ja ebenfalls einen politischen Hintergrund haben. Das Gefühl, dass sich ihre Leistung noch lohnt, haben so immer weniger Menschen. Das Gefühl, abkassiert und geschröpft zu werden, dafür umso mehr.

    Politik für die breite Mitte der Gesellschaft? - Fehlanzeige!

    Koalitionsvertrag: Was auf die Verbraucher zukommt

    Die von Union und SPD im Koalitionsvertrag besiegelten Vorhaben haben Auswirkungen auf viele Lebensbereiche der Bürger. Auf die Verbraucher kommen Neuerungen etwa bei Mieterhöhungen, Arztterminen und in der Datenkommunikation zu.

    MIETPREISBREMSE: Die Länder können in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt - zunächst für fünf Jahre - die Mieterhöhungen bei Wiedervermietung auf zehn Prozent der ortsüblichen Vergleichsmiete begrenzen. Bei Einschaltung eines Maklers gilt: Wer ihn beauftragt, der bezahlt auch.

    DISPOKREDIT: Wer sein Konto überzieht und in den Dispo rutscht, soll von seiner Bank einen Warnhinweis erhalten.

    PFLEGEVORSORGE: Für die Sozialversicherten wird es teurer, da der Beitragssatz zur Pflegeversicherung spätestens zum 1. Januar 2015 steigt - und zwar um 0,3 Prozentpunkte. Danach soll der Beitrag noch einmal um 0,2 Punkte angehoben werden.

    PFLEGEZEIT: Wer kurzfristig Zeit für die Organisation der Pflege eines Angehörigen benötigt, soll sich eine zehntägige Auszeit nehmen können und dafür weiter Gehalt bekommen - ähnlich wie beim Kinderkrankengeld.

    ELTERNGELD PLUS: Um Eltern den Widereinstieg in den Job zu erleichtern, sollen sie für die Dauer von 28 Monaten das Elterngeld in Kombination mit einer nicht geringfügigen Teilzeitarbeit erhalten. Dass soll vor allem Alleinerziehenden helfen.

    FLEXIBLERE ARBEITSZEITEN: Für Arbeitnehmer, die wegen der Kindererziehung oder Pflege Angehöriger kürzer treten wollen, soll ein Rechtsanspruch auf Befristung der Teilzeit geschaffen werden - also ein Recht auf Rückkehr zur Vollzeit-Tätigkeit.

    SCHUTZ VOR STROMSPERREN: Intelligente Stromzähler mit Prepaid-Funktion sollen Verbraucher besser davor schützen, dass ihnen wegen unbezahlter Rechnungen Strom oder Gas abgedreht werden.

    ARZTTERMINE: Wer als gesetzlich Versicherter nicht innerhalb von vier Wochen einen Facharzttermin bekommt, kann sich ambulant im Krankenhaus behandeln lassen.

    MINDESTLOHN: Ab dem 1. Januar 2015 wird es einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn geben. Er soll von einer Kommission aus Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Experten festgelegt werden. Ausnahmen von dem Mindestlohn gibt es danach noch für zwei Jahre in Branchen, wo repräsentative Tarifverträge gelten. Ab 2017 gilt der Mindestlohn dann in ganz Deutschland uneingeschränkt.

    RENTE: Mütter und Väter von vor 1992 geborenen Kindern sollen ab 1. Juli 2014 mehr Rente für die Erziehungszeit bekommen. Auch soll es finanzielle Erleichterungen für Menschen geben, die aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand gehen und Erwerbsminderungsrenten erhalten. Menschen, die 45 Jahre in die Renteversicherung eingezahlt haben, sollen ab dem 1. Juli künftig schon mit 63 in Rente gehen können. Renten-Verbesserungen sind daneben für Geringverdiener vorgesehen.

    PKW-MAUT: Der Koalitionsvertrag sieht eine «europarechtskonforme Pkw-Maut» vor. Damit sollen ausländische Autofahrer an den Ausgaben für das Autobahnnetz beteiligt werden. Auf deutsche Autofahrer sollen keine Mehrkosten zukommen.

    LÄRMSCHUTZ: Anwohner von Flughäfen und Bahnstrecken sollen besser geschützt werden. Der Schienenlärm soll bis 2020 deutschlandweit halbiert werden. Bei der Festlegung der Flugrouten sollen Anrainer frühzeitig beteiligt werden.

    INTERNET: Auch in ländlichen Gegenden sollen die Menschen schnelles Internet haben und zwar flächendeckend mindestens 50 Megabit pro Sekunde bis 2018. Außerdem wollen Union und SPD die rechtlichen Voraussetzungen für kostenlose WLAN-Angebote in Städten schaffen.

    AUTOFAHRER: Die Polizei soll bei Alkoholsündern künftig weitgehend auf Blutproben verzichten und die Werte per Atem-Alkoholtest bestimmen. Ein Fahrverbot soll als Alternative zur Freiheitsstrafe und zusätzliche Sanktion ins Strafrecht aufgenommen werden, vor allem für diejenigen, «für die eine Geldstrafe kein fühlbares Übel darstellt».

    Natürlich gibt es für jede teure Reform, allen voran die höheren Mütterrenten, gute Gründe. Ihren Anspruch, Politik für die breite Mitte der Gesellschaft zu machen, lösen Union und SPD bisher allerdings nicht ein. Besonders augenfällig wird das im Vergleich zwischen Rentnern und Erwerbstätigen: Für ihre Rentenreformen hatte die neue Koalition sechs Milliarden Euro und den passenden Gesetzentwurf schnell zur Hand, den Kampf gegen die kalte Progression dagegen, eine der größten Ungerechtigkeiten des Steuersystems, führt sie gar nicht erst. An kleineren Lohnerhöhungen verdient deshalb nur der Fiskus – obwohl es den großen Parteien ein Leichtes wäre, die Steuerkurven ohne zusätzliche Kosten abzuflachen. Sie müssten im Gegenzug lediglich Subventionen kürzen oder den Wildwuchs bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen ausmisten.

    Von einer robusten Konjunktur spürt der Arbeitnehmer nicht viel

    Obwohl die Arbeitslosenzahlen stark gesunken sind und die Konjunktur robuster ist als erwartet, haben Millionen von Arbeitnehmern davon nicht viel. Von ihren Lohnerhöhungen steuert der Staat einen immer größeren Teil weg und mit den Beitragsüberschüssen in der Rentenkasse entlastet er nicht die Beitragszahler, sondern finanziert damit seine Reformen. Dass es auch anders geht, zeigt in den nächsten Wochen die Techniker Krankenkasse. Sie zahlt ihren Versicherten rund eine Milliarde Euro an nicht benötigten Beiträgen zurück.

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