Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Kommentar: Die evangelische Kirche hat sich bei der Missbrauchs-Aufklärung zu viel Zeit gelassen

Kommentar

Die evangelische Kirche hat sich bei der Missbrauchs-Aufklärung zu viel Zeit gelassen

Daniel Wirsching
    • |
    Lange erwartet, endlich vorgestellt: die "ForuM"-Studie über sexualisierte Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie in Deutschland.
    Lange erwartet, endlich vorgestellt: die "ForuM"-Studie über sexualisierte Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie in Deutschland. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Die evangelische Kirche hat sich reichlich Zeit gelassen für eine umfassende Missbrauchsstudie, viel zu viel Zeit aus Betroffenensicht. Reichlich Zeit hatte die evangelische Kirche auch, um auf den Umgang der katholischen Kirche mit Fällen sexualisierter Gewalt zu blicken und daraus zu lernen.

    Tatsächlich ist die evangelische Kirche in manchen Bereichen sogar weiter, etwa mit ihrem "Beteiligungsforum", in dem Kirchen- und Betroffenenvertreter gemeinsam an kirchenpolitischen Entscheidungen zur Aufarbeitung beteiligt sind. In anderen Bereichen muss man sich schon sehr wundern. Dass Forschende, die mit der "ForuM"-Studie beauftragt wurden, bei deren Vorstellung ihren Auftraggeber Kirche kritisieren müssen und von einer Reduzierung des Datenmaterials auf Disziplinarakten sprechen, macht fassungslos.

    Die nun endlich veröffentlichte "ForuM"-Studie wird etwas auslösen in der evangelischen Kirche wie in der breiten Öffentlichkeit, die Missbrauchsskandale bislang eher mit der katholischen Kirche in Verbindung brachte. Auch, weil man dachte, in der liberaleren evangelischen Kirche, in der Pfarrer heiraten dürfen und es Pfarrerinnen gibt, sei das Problem anders gelagert. Vielleicht weniger gravierend.

    In der katholischen Kirche löste die "MHG"-Studie ein Beben aus, dessen Folgen bis heute zu spüren sind

    Die 2018 vorgestellte "MHG"-Studie für die katholische Kirche bewirkte eine Erschütterung, die bis heute anhält. Ihr folgte der umstrittene Reformprozess Synodaler Weg, der strukturelle Veränderungen zur Eindämmung spezifischer Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt innerhalb der katholischen Kirche bringen sollte – die Krise der Kirche aber insofern verschärfte, als weltweit über Spaltungstendenzen diskutiert wurde. Wieder und wieder zeigte sich eine zerstrittene Kirche, wieder und wieder stieß sie Missbrauchsbetroffene vor den Kopf.

    Die "ForuM"-Studie für die evangelische Kirche wird im Gegensatz dazu keine jahrelang anhaltenden Schockwellen auslösen. Ein Beben möglicherweise, eine Implosion gewiss nicht, und das völlig ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Qualität oder ihres bestürzenden Inhalts. Das hat damit zu tun, dass die evangelische Kirche in Sachen Aufarbeitung oder Prävention weiter ist, als es die katholische Kirche damals war; "radikaler Umbrüche" bedarf es eher weniger. Doch es hat auch damit zu tun, dass derart viel Zeit vergangen ist, seitdem im Jahr 2010 in Deutschland eine Flut von Enthüllungen über massenhaften und systemischen Missbrauch vor allem in Reihen und Einrichtungen der katholischen Kirche einsetzte.

    Die Zeit spielt immer stärker gegen Missbrauchsbetroffene

    Es mag eine erwartbare Feststellung sein: Auch die evangelische Kirche spielte auf Zeit. Und es klingt bitter und zynisch, ungerecht und schrecklich banal: Doch die Zeit spielt immer stärker gegen Missbrauchsbetroffene. Unter anderem, weil sich inzwischen eine Stimmung verspüren lässt, die ihren Ausdruck darin findet, dass man schlicht nichts mehr anderes von "der Kirche" erwartet und ihr alles Mögliche an Abgründigem zutraut. Es scheint sich eine zunehmende Erschöpfung, bisweilen ein Überdruss angesichts der nicht enden wollenden Meldungen oder Studien zum Thema Missbrauch einzustellen, ein Gewöhnungseffekt.

    Aber an Missbrauchsfälle, genauso in Familien oder Sportvereinen, kann und darf man sich nicht gewöhnen. Erst recht nicht an Fälle in einer Kirche, die das Evangelium in die Welt tragen soll. Was die "ForuM"-Studie betrifft: Sie ist lediglich ein weiterer Teil im Bemühen um Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention – und legt spezifische Risikofaktoren offen, denen sich jetzt die ganze evangelische Kirche gezielt zu stellen hat. Allen voran Betroffene werden sehr genau darauf achten, welche Konsequenzen insbesondere Kirchenverantwortliche ziehen und als wie glaubwürdig sich ihre Beteuerungen erweisen werden.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden