Ein Politiker der SPD wird ins Krankenhaus geprügelt. Die Gewalttat allein genügte, um in tiefe Sorge um die politische Kultur dieses Landes zu geraten. Der Vorfall aus Dresden steht aber nicht allein, sondern in einer Reihe. Wenige Minuten vor dem Angriff auf den Sozialdemokraten werden zwei Mitglieder der Grünen attackiert, die in der sächsischen Landeshauptstadt Plakate aufhängten. Der Staatsschutz geht davon aus, dass es sich um dieselben Täter handelt.
Wenige Tage davor wird die bekannte Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt nach einer Parteiveranstaltung bedrängt. Wenige Monate zuvor hindern wütende Bauern Wirtschaftsminister Robert Habeck (ebenfalls Grüne) nach einem privaten Ausflug auf eine Insel daran, von der rückkommenden Fähre zurück an Land zu gehen. Wenige Jahre davor erschießt ein Rechtsextremist den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU).
Attacken auf Politiker: Es wird Schuld zugesprochen
Für die Analyse des alarmierenden Zustands der politischen Kultur sind die Reaktionen auf diese Grenzüberschreitungen ebenso aufschlussreich. Den Familien wird das Beileid versichert, volle Solidarität bekundet, das Geschehene verurteilt und die volle Härte des Rechtsstaats verlangt. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Attacken in Dresden und ohne Kenntnis der Motive der Täter setzte zudem ein kommunikatives Muster ein, das typischerweise zur kommunikativen Begleitung dieser Grenzüberschreitungen gehört. Es wird Schuld zugesprochen.
Ein Teil der berichtenden Journalisten erklärte automatisch Rechtsradikale zu Tätern, was möglich ist, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht ermittelt war. Die SPD machte die AfD verantwortlich, ein Klima der Bedrohung geschaffen zu haben. Die AfD dreht den Spieß um und warf wiederum den Sozialdemokraten vor, mit Hetze gegen Andersdenkende zur Eskalation beizutragen. Erst jüngst hatte Parteichefin Saskia Esken die AfD als Nazi-Partei bezeichnet. Auch Politiker der Alternative für Deutschland werden im Wahlkampf angegriffen, und zwar gar nicht selten.
Demokratie ist verwundbar, weil sie nicht aus sich selbst entsteht. Sie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann, lautet die berühmte Formel des Rechtsgelehrten Ernst-Wolfgang Böckenförde. Der freiheitliche Staat fußt auf einer politischen Kultur, in der über Argumente hart gestritten wird, die Auseinandersetzung aber um der Sache willen geführt wird und sich nicht gegen den politischen Wettbewerber persönlich richtet. Der Streit muss zivil, mit quasi heruntergekochter Temperatur geführt werden.
Gemeinsamkeit zu erreichen, ist für moderne Gesellschaften kaum möglich
In der politischen Praxis hat das auch in den vermeintlich seligen Tagen der alten Bundesrepublik bestenfalls mittelmäßig funktioniert, teilweise gingen sich alte Recken wie Wehner und Strauß härter an, als es heute üblich ist. Was sich geändert hat, ist die Struktur der Gesellschaft und der Kommunikationsmittel. Die Entwicklung schreitet Richtung Vielfalt voran. Bis in die 80er-Jahre teilten drei Parteien die Macht auf, heute sind es derer sieben. Früher fand die politische Kommunikation in Zeitung, Radio und Fernsehen statt, heute ist sie im Internet und sozialen Medien potenziell unbegrenzt.
Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Marktanteile führt dazu, dass die Lautstärke aufgedreht und der politische Streit mit großer Hitze gekocht wird. Gemeinsamkeit zu erreichen, ist für moderne Gesellschaften kaum möglich.
Aus diesen strukturellen Gründen sind alle Appelle, sich verbal im Zaum zu halten, Themen nicht künstlich hochzujazzen, vergebliche Liebesmüh. Auch auf diesem Feld schlägt Markt Moral. An „Es-muss-jetzt-Aufrufen“ hat es auch in der Vergangenheit nie gemangelt. Folglich, und das ist das Beklagenswerte und Bedauernswerte daran, kann die Sicherheit für Politiker nur auf der praktischen Ebene erhöht werden.
Die Polizei wird häufiger als früher den Wahlkampf und politische Veranstaltungen absichern müssen. Das Aufhängen der Plakate und das Verteilen von Broschüren sollte in größeren Gruppen gemacht werden. Eine Rückkehr in die Zeit der Übersichtlichkeit steht nicht zu erwarten.