Wer lesen kann, ist klar im Vorteil – so heißt es oft, wenn jemand etwa ein Hinweisschild übersehen oder die Gebrauchsanleitung nur flüchtig betrachtet hat. Doch in dem meist scherzhaft verwendeten Satz liegt eine tiefe Wahrheit, bedeutet er doch im Umkehrschluss auch: Wer nicht richtig lesen kann, hat gewaltige Nachteile, die sich durch das ganze Leben ziehen können.
So ist es ein entsetzlicher Befund, dass jeder vierte Viertklässler in Deutschland schwerste Defizite im Erfassen von Texten hat. Flüssiges, sicheres Lesen ist nämlich der Schlüssel zum Erfolg in fast allen anderen Schulfächern, auch den mathematisch-naturwissenschaftlichen. Wer die Formulierung einer Rechentextaufgabe nicht begreift, wird sie auch nicht lösen können. Ohne gute Lesefähigkeiten ist es schwer, den Schulabschluss zu schaffen, der wiederum Voraussetzung für eine Berufsausbildung ist. Dass es trotz Millionen offener Stellen Millionen von Menschen gibt, die kaum in eine Arbeit zu vermitteln sind, hat auch mit dem Debakel an den Schulen zu tun.
Bildung liegt zu sehr an der Herkunft
Mehr als 20 Jahre ist es her, dass der Schock der Pisa-Studie die Mängel im deutschen Bildungssystem schonungslos offengelegt hat. Doch passiert ist seither entweder zu wenig oder das Falsche. Noch immer hängt in Deutschland der Bildungserfolg eines Kindes viel stärker als in anderen Ländern davon ab, in welche Umstände es hineingeboren wurde.
Wohlhabende, gebildete Elternhäuser können die Unterstützung leisten, die nötig ist, um dem Nachwuchs den Weg zu Abitur und Studium zu ebnen. Familien, in denen die Eltern etwa als Alleinerziehende besonders gefordert sind oder selbst kein Deutsch sprechen, vermögen das oft nicht. Kinder, denen nie eine Geschichte vorgelesen wird, tun sich mit dem Lesen viel schwerer. Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass es durchaus möglich ist, den Schulerfolg stärker von der Herkunft zu entkoppeln und Bildung so zu gestalten, dass jedes Kind bestmöglich gefördert werden kann.
Zwischen heiler Welt und Brennpunktschule
Um die Misere zu beenden, wäre nichts weniger als eine völlige Zeitenwende in der Bildungspolitik nötig. Jede Schule muss so ausgestattet werden, wie es die Struktur ihrer Schülerschaft erfordert. Eine Lehrerin oder ein Lehrer pro Klasse, das genügt schlichtweg nicht, wenn die Mehrzahl der Kinder einen besonderen Förderbedarf hat, der nicht immer, aber oft mit mangelnden Sprachkenntnissen zusammenhängt. Die Situation an Schulen in wohlhabenden, bürgerlichen Gegenden ist nicht vergleichbar mit den Zuständen an sogenannten Brennpunktschulen. In Ersteren können viele Kinder schon bei der Einschulung lesen und schreiben. In Letzteren können nicht wenige es auch nach dem Ende der Grundschulzeit noch nicht, oft lernen sie es auch in den restlichen Jahren nicht mehr.
Die Lehrerinnen und Lehrer sind zu oft überfordert
Bei jedem Kind die konkreten Fähigkeiten konsequent einüben und gleichzeitig die Lust am Lesen fördern, das geht nur, wenn genügend motivierte Pädagogen vorhanden sind. Die Motivation beim Lehrpersonal aber schwindet gerade mit der Überforderung. Das zu ändern erfordert die Überwindung der bildungspolitischen Eifersüchteleien zwischen den Bundesländern und kostet eine Menge Geld. Das Startchancen-Programm, mit dem der Bund 4000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler speziell fördern will, geht in die richtige Richtung.
Für das Programm ist bisher eine Milliarde Euro zusätzlich pro Jahr vorgesehen. Doch das wird längst nicht genügen, um eine wirkliche Umkehr des gefährlichen Trends zu einer immer schlechteren Lesekompetenz zu erreichen. Der Staat muss noch deutlich entschlossener vorangehen und ganz andere Summen bereitstellen. Denn die Alternative, dass Jahr für Jahr tausende von Kindern ohne die für ein erfolgreiches Leben nötigen Lesekenntnisse die Schulen verlassen, ist ungleich kostspieliger.