Wer lange genug nach Westen geht, landet irgendwann – genau – tief im Osten. Das ist so richtig wie schlicht und soll zu Beginn nur zeigen: alles eine Frage des Standpunktes. Wer der Idee des „Westens“ in die Vergangenheit folgt, seiner Begriffsgeschichte, wird dafür viele Beispiele finden. Nicht zuletzt in Deutschland, in Berlin, vormalige Frontstadt im ersten Kalten Krieg.
An Tag 15 des Angriffs, mit dem der russische Machthaber Putin die Ukraine überzieht und damit verantwortlich zeichnet für tausende Tote, unermessliches Leid und – mittelfristig – den Beginn eines zweiten Kalten Krieges, ist die Frage des Standpunktes zunächst vermeintlich leicht geklärt. Hier der gewalttätige Autokrat, dort der von ihm mit Vernichtung bedrohte Rest. Dass der sich im „Westen“ verortet, hat es in der Geschichte schon öfter gegeben. Ein politisches Abgrenzungsnarrativ, das – ideengeschichtlich zwar höchst umstritten – vor dem Fall des Eisernen Vorhangs besonders gut funktionierte. Und das nun eine unverhoffte Wiederkehr erfährt.
Wenn man es zuspitzt, ist die neue Zustimmung, die der „Westen“ erfährt, plakativ auch daran abzulesen: Nur Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien verbleiben unter den Vereinten Nationen an der Seite Russlands. 141 Staaten, eine historische Mehrheit, stimmte gegen Putin.
Gegen Putin heißt nicht zwangsläufig "im Westen"
Nun heißt „gegen Putin“ aber natürlich nicht zwangsläufig „im Westen“. Erst recht, weil es nicht sehr lange her ist, dass der für viele, die ihn hassen, von einem alten, wütenden Mann mit gelben Haaren symbolisiert wurde („America First“). Dass er für andere von einer zerstrittenen (Brexit), als ohnmächtig erachteten Europäischen Union repräsentiert wurde, die ihr Verhältnis zur militärischen Schutzmacht USA neu justieren musste. Der sich durch seine Kriege im Nahen Osten und zuletzt besonders in Afghanistan in der muslimischen Welt unmöglich gemacht hatte und hat. Und der mit Blick auf die eigene imperialistisch-ausbeuterische Vergangenheit noch einiges aus der Kolonialgeschichte aufzuarbeiten hat. Dessen Lebensstil den Planeten bedroht.
Trotzdem und offensichtlich funktioniert er weiter und wieder als Sammelbegriff. Von der Ukraine über die USA bis Neuseeland. Als ein Mittel zum Zweck. Und warum auch nicht?
Wenn man es also gut mit ihm meint, dann steht „der Westen“ plakativ für einen zivilisierten, wertegeleiteten und regelbasierten Umgang miteinander, also für Menschenrechte, Demokratie, für freiheitlich verfasste Rechtsstaaten, für Fortschritt und breiten ökonomischen Wohlstand (auch wenn der mit Blick auf den Klimawandel einer gewissen Neudefinition bedarf). Er steht für sozialen Ausgleich, für Transparenz, für ein Sich-selbst-Hinterfragen und damit steht er für Erneuerungsfähigkeit. Nichts von dem kann Putins Herrschaftsmodell bieten. Gar nichts.
Frieren für die Ukraine, wenn es sein muss
Ob dieser Westen die nach der „Zeitenwende“ in ihn neu gesetzten Erwartungen zu erfüllen weiß, muss sich erst noch zeigen. Bis dahin sind harte Sanktionen (ja, frieren für die Ukraine, wenn es sein muss), Aufrüstung und dann Abschreckung die Mittel der Wahl. Wenn diese aber Erfolg haben, muss sich seine Erneuerungsfähigkeit darin zeigen, dass man sich nicht wieder zum „Gewinner“ der Geschichte erklärt. Sieger gibt es nicht, wenn der Krieg erst begonnen hat. Zu zeigen, dass man – etwa bei der Nato – verstanden hat, würde bedeuten, Russland nicht erneut das Gefühl zu geben, verloren zu haben. Gelingt das eines Tages, braucht es den rhetorischen Ost-West-Antagonismus nicht mehr. Zu naiv? Der Wunsch nach Frieden lebt von Hoffnung.
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