Züge bleiben im Bahnhof, Schiffe im Hafen, Flugzeuge am Boden. Und auch auf Autobahnen droht der Stillstand. Denn zwei Gewerkschaften bündeln ihre Macht, um den Verkehr in Deutschland fast völlig lahmzulegen. Doch so verständlich ihr Anliegen ist, mehr Geld für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und im Bahnverkehr zu erkämpfen, so überzogen ist die Aktion in ihrer Wucht. Denn sie betrifft viele Millionen unbeteiligte Menschen, die nicht oder nur unter Schwierigkeiten dorthin kommen, wohin sie wollen oder müssen. Viele derer, die unter dem Streik leiden, bräuchten selbst dringend einen Inflationsausgleich, haben im Tarifpoker aber deutlich schlechtere Karten als die Beschäftigten bei Bund, Ländern und Kommunen sowie dem Staatskonzern Deutsche Bahn.
Verdi-Streik: Kaum etwas zu verlieren, viel zu gewinnen
Bei der Mehrzahl derer, die nun streiken, geht es um ein Mehr an Steuergeld, für das die Bürger zur Kasse gebeten werden. In manchen gebeutelten Bereichen der Privatwirtschaft könnten massiv steigende Personalkosten dagegen zu Pleiten oder Entlassungen führen. Der öffentliche Dienst und der Bahnverkehr aber können nicht eingestellt oder ins Ausland verlagert werden. Stellenabbau ist nicht mehr möglich, der Personalmangel nimmt ja stetig zu. Die Beschäftigten befinden sich in einer privilegierten Lage. Ihre Arbeitsplätze sind sicher, sie haben kaum etwas zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Diese Überlegenheit spielen sie mit Triumphgeheul aus. Was Warnstreik heißt, erinnert auf ungute Weise an die Streiks in Frankreich, die dort weniger der Tarifbestimmung, als vielmehr der Erzeugung größtmöglichen politischen Drucks dienen.
Verdi hofft auf Beifall und neue Mitglieder
Bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die um 10,5 Prozent mehr Lohn für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst kämpft, kommt der Mega-Streik zu früh, denn gleichzeitig findet am Montag die dritte Tarifrunde mit den Arbeitgebern statt. Vor einer derart massiven Maßnahme hätte wenigstens das neue Angebot abgewartet werden müssen. Im streng ritualisierten Aushandlungsprozess, der oft an Schattenboxen erinnert, haut der eine Partner heftig zu, trifft aber nicht den Gegner, sondern die Umstehenden. Die Gespräche erleichtert das zwar nicht, doch Verdi-Chef Frank Werneke kann sich des Beifalls der Mitglieder sicher sein. Vor allem zielt er darauf, neue Mitglieder zu gewinnen.
EVG will nicht mehr als zahnlos gelten
Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, die Beschäftigte der mächtigen Bahn und von rund 50 kleineren Schienenfirmen vertritt, will mit dem Streik auch gegen ihren Ruf kämpfen, sie sei im Vergleich zur forsch auftretenden Lokführergewerkschaft GDL recht zahnlos. In der letzten Runde gab sich die EVG mit bescheidenen 1,5 Prozent mehr Lohn zufrieden, die Arbeitgeber, allen voran die Bahn, hatten mit Verweis auf die massiven Einbrüche durch die Corona-Pandemie zur Zurückhaltung gemahnt. Gerade deshalb langt es den Eisenbahnern jetzt, die vielfach unter dem Ausfall erkrankter Kollegen litten und die Maskenpflicht gegen teils aggressive Fahrgäste durchsetzen mussten.
Richtig ist: Bei allen Beschäftigten, gleich in welcher Branche, hat die Teuerung unbarmherzig an der Kaufkraft genagt. Manche Großkonzerne haben aber trotz oder sogar gerade wegen der multiplen Krisen riesige Gewinne eingefahren, etwa im Energiesektor. So ist der Wunsch nach einem anständigen Inflationsausgleich so groß wie verständlich. Ohne faire Bezahlung wird sich der Mangel an Arbeits- und Fachkräften gerade im Mobilitätssektor immer weiter verschärfen. Doch all das ist bekannt bei Kommunen, Bund und Bahn. Vor allem muss also nicht das ganze Land in den Stillstand gezwungen werden, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen.