Anfang Mai wird im Olymp der Liberalen der Gottvater gewechselt. Mit zehn Jahren, vier Monaten und 24 Tagen ist Christian Lindner dann länger FDP-Vorsitzender als die Parteilegende Hans-Dietrich Genscher. Um sein Amt bangen aber muss Lindner trotz einer Serie verlorener Landtagswahlen und deprimierender Umfragewerte nicht. Wie unter Genscher und Guido Westerwelle ist die FDP ganz auf ihn ausgerichtet – ein Verhältnis, so symbiotisch wie schicksalhaft. Oder, etwas plakativer: Scheitert Lindner, dann scheitern auch die Liberalen.
Den Haushaltsstreit hat der Finanzminister fürs Erste zwar beigelegt. Die vergangenen beiden Jahre aber haben gezeigt, wie unsicher das Terrain ist, auf dem die Ampelkoalition agiert. Verliert sie weiter so dramatisch an Ansehen wie zuletzt, wird das Sozialdemokraten und Grüne zwar viel Kredit kosten, aber nicht ihre Präsenz in den Parlamenten. Die FDP dagegen kann diese Koalition ihre Existenz kosten. Würde sie bei der nächsten Wahl wieder aus dem Bundestag fliegen, wäre weit und breit kein neuer Lindner in Sicht, der sie in der außerparlamentarischen Opposition am Leben hält.
Christian Lindner ist zum Erfolg verdammt
So gesehen ist der Finanzminister zum Erfolg verdammt – in einer für ihn geradezu grotesken Situation. Das Karlsruher Haushaltsurteil, das die Ampel zu ihren Sparmaßnahmen zwingt, atmet den Geist der FDP, indem es die Politik zu einem Ende der bisherigen Schuldenwirtschaft zwingt. Gleichzeitig ist Lindner aber der Finanzminister, der den beanstandeten Etat zu verantworten hat. In diesem Dilemma hat er nur die berühmte Wahl zwischen Pest und Cholera: Die Koalition wegen der Differenzen über die künftige Finanzpolitik aufzukündigen hieße, die FDP in ein Abenteuer zu stürzen, an dessen Ende womöglich eine vorgezogene Neuwahl und ein Ergebnis unter der kritischen Marke von fünf Prozent stünden. Sich durchzuwursteln wie bisher birgt annähernd das gleiche Risiko, aber zumindest die Chance, dass die Konjunktur bis zur regulären Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres wieder anspringt und die Liberalen das auch als Ergebnis ihrer Politik der ökonomischen Vernunft verkaufen können.
Dazu aber muss Lindner die Koalition auch um den Preis weiterer Konflikte auf genau diesem Kurs halten. Das heißt: kein Lockern der Schuldenbremse, kein weiteres Aufblähen der Sozialausgaben und schon gar keine Steuererhöhungen. Bisher ist ihm das gelungen, mit jedem Tag jedoch, den die nächste Bundestagswahl näher rückt, werden Sozialdemokraten und Grüne noch fordernder werden, die Fliehkräfte in der Ampel noch stärker und die inneren Widersprüche dieses Bündnisses noch offensichtlicher. Die Gefahr, dass die FDP am Ende als notorischer Nein-Sager dasteht, der seinen Koalitionspartnern das Geld für ihre Wohltaten verweigert, ist groß. Diesen Eindruck erst gar nicht entstehen zu lassen, ist die im Moment vielleicht größte Herausforderung für Lindner.
Der FDP-Chef hat durchaus Stehvermögen
Ohne ihn wäre die FDP nicht da, wo sie heute steht. Mit ihm geht sie nun in ein schwieriges Jahr mit der Europawahl und drei Landtagswahlen in den neuen Ländern, in denen für die Liberalen nicht viel zu holen sein wird. Auf der anderen Seite hat Lindner in den vergangenen zehn Jahren als FDP-Vorsitzender durchaus Stehvermögen und Nehmerqualitäten bewiesen. Beides wird er auch jetzt brauchen, da es für die FDP um alles geht. Hält er sie über die nächste Wahl hinaus im Spiel, säße er im liberalen Olymp völlig zu Recht ganz oben – als neuer Genscher.