Die Zeit, in denen die Corona-Pandemie zur eigenen populistischen Profilschärfung benutzt wurde, wie dies Sebastian Kurz zu tun pflegte, sollte in Österreich mit Kurz‘ Abgang eigentlich vorbei sein. Am Mittwochnachmittag wurden die Österreicherinnen und Österreicher eines Besseren belehrt.
Wer die Pressekonferenz von Kurz-Nachfolger Karl Nehammer und seinem grünen Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein verfolgte und dabei genau zuhörte, dem wurde klar: Die Botschaft der umfangreichen Öffnungen schon ab kommenden Samstag richten sich auch an jene, die lauthals auf den Straßen nach „Freiheit“ rufen, Masken und Schutzmaßnahmen ablehnen, die schon lange keine Rücksicht mehr auf verletzbare Gruppen nehmen. Dass sich die Infektionszahlen nach wie vor in Rekordhöhen bewegen (von einem „Plateau“ sprach auch der Kanzler selbst, immerhin), spielt offensichtlich keine Rolle.
Das zeigt die Tatsache, dass die gesamtstaatliche Covid Krisenkoordination GECKO mit ihren Warnungen vor zu raschen Öffnungen ignoriert wurde. Stattdessen beriefen sich Nehammer und Mückstein auf die Pandemie-Modellrechner, die eine stabile Lage in den Spitälern vorausgesagt hätten. Dabei aber sprechen die Prognostiker selbst von einem „Verlust der Evidenz“ und von „Verhandlungen wie auf einem Basar“, was die Interpretation der Corona-Datenlage angeht.
Es lässt deutlich erkennen, wer in Österreich nun das Sagen hat.
Was da am Mittwochnachmittag der Öffentlichkeit präsentiert wurde, ist aber nicht nur ein Kniefall vor Impfgegnern, Coronaleugnern und der rechten FPÖ von Herbert Kickl. Es lässt vor allem deutlich erkennen, wer in Österreich nun das Sagen hat.
Die massiven Korruptionsaffären rund um aufgetauchte Handy-Chats von hochrangigen ÖVP-Politikern nehmen kein Ende, und dabei geht es nun nicht mehr nur um den ehemaligen Machtzirkel von Sebastian Kurz, sondern um die „alte“, die „schwarze“ ÖVP: mitten drinnen auch die mächtige niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und ein langjähriger ÖVP-Beamter im Innenministerium. Mit Anfang März starten die ersten Befragungen im – wiederaufgelegten – parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der dann ausschließlich auf Korruption, Postenschacher und Spezi-Wirtschaft in der ÖVP fokussieren wird.
Das bedeutet: weitere Skandale, weitere Schlagzeilen und womöglich noch schlechtere Umfragewerte. Zudem wird in den für die Kanzlerpartei ÖVP wichtigen Bundesländern, allen voran im „schwarzen“ Kernland Niederösterreich, 2023 ein neuer Landtag gewählt. In Umfragen liegt die verschwörungsgläubige Impfgegner-Partei MFG bundesweit inzwischen bei sechs bis sieben Prozent – locker über der Vier-Prozent-Hürde und damit im Falle von vorgezogenen Neuwahlen im Parlament. Was also liegt näher, als mit beinah Komplett-Öffnungen zu versuchen, die Wählergunst und vor allem die Stimmen der Impfgegner und Coronaleugner, zurückzuholen?
Die Regierung in Wien machte kaum Anstalten, ihre Linie zu halten
Nicht zu vergessen auch die Impfpflicht. Es waren die ÖVP-Länderchefs, wohl auch auf Druck von Tourismus, Gastronomie und Handel, die diese gefordert und durchgesetzt hatten. Diese wollten Planungssicherheit, und möglichst wenig Aufwand fürs Geschäft. Noch nicht einmal eine Woche nach dem Gesetzesbeschluss war es Salzburgs ÖVP-Landeshauptmann Wilfried Haslauer, der die heikle Maßnahme und den mühsam errungenen Kompromiss öffentlich zum Abschuss freigab, indem er die Sinnhaftigkeit in Frage stellte.
Die Regierung in Wien machte kaum Anstalten, ihre Linie zu halten. Das alles zeigt vor allem eines: die Bundesregierung in Wien hat ihre Handlungsfähigkeit zu einem großen Teil verloren. Regiert wird nicht mehr aus dem Kanzleramt am Ballhausplatz im Zentrum der Hauptstadt, sondern aus St.Pölten, Innsbruck, Linz und Salzburg. Es sind die ÖVP-geführten Bundesländer, die Landeshauptleute von Niederösterreich, Salzburg und Tirol mit seiner Tourismus-Lobby, die „ihrem“ Kanzler Karl Nehammer in der Manier einer Schattenregierung ansagen, was zu geschehen hat. Das ist nicht nur demokratiepolitisch und der österreichischen Verfassung unwürdig – sondern erweist sich auch als völlig untauglich, das Ziel zu erreichen, diese Pandemie möglichst rasch zu beenden oder sie zumindest bestmöglich zu kontrollieren.
Das erneute Hü-Hot der Koalition könnte sich bald als kurzsichtige Fehleinschätzung herausstellen
Die Impfpflicht nicht umzusetzen aus Rücksicht auf eine kleine, radikalisierte Minderheit wäre fatal, warnten in diesem Punkt immer wieder die Experten der deutschen Forschungsstelle CeMAS, die auf Extremismus und Verschwörungsideologie spezialisiert ist. Exakt diesen Weg wählt nun offenbar die österreichische Regierung. Es ist nicht nur ein fatales Signal an die radikale Rechte, sondern auch an jene, die die Notwendigkeit der – keineswegs unumstrittenen – Impfpflicht erkannt haben, und diese mittragen würden.
Dabei könnte sich das erneute Hü-Hot der Koalition bald als kurzsichtige Fehleinschätzung herausstellen. Was, wenn die Experten, die vor der noch ansteckenderen Omikron-Variante BA.2 warnen, doch recht haben, und die Öffnungen viel zu früh erfolgen? Die Regierungsspitze selbst schloss dann neue harte Maßnahmen nicht aus. Gerade das Fehlen dieser Gradlinigkeit ist es, was viele Österreicher an der Regierung vermissen – bei den Schutzmaßnahmen ebenso wie bei der Impfpflicht. Politiker, die eher vorsichtig, aber dafür kalkulierbar und stringent handeln, wie etwa der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, genießen weitaus höhere Vertrauenswerte. Wenn es der Regierungsspitze und vor allem der Kanzlerpartei ÖVP also vor allem um das Wohlwollen der Wähler geht, sollte sie gerade jetzt eben nicht schon wieder auf Risiko, sondern auf Vorsicht setzten. Und nicht auf undurchdachten Populismus.