Millionen von Beschäftigten können von solchen Gehaltserhöhungen nur träumen: Seit seiner Einführung im Januar 2015 ist der gesetzliche Mindestlohn um 46 Prozent gestiegen – von 8,50 Euro pro Stunde auf 12,41 Euro. Und während die Tariflöhne durch die hohe Inflation in den vergangenen Jahren real an Wert verloren haben, lag die Kaufkraft des Mindestlohns nach einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im September um 11,6 Prozent höher als bei seiner Einführung.
Ihn jetzt noch einmal um mehr als 20 Prozent zu erhöhen, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es gerade gefordert hat, ist also weder ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit noch eines der ökonomischen Vernunft, sondern ein leicht zu durchschauendes Wahlkampfmanöver. Ein ordnungspolitischer Sündenfall ist es obendrein, schließlich hat die Tarifautonomie in Deutschland Verfassungsrang. Über die Höhe der Löhne sollen nicht Politiker entscheiden, sondern die Tarifpartner.
Eigentlich setzt eine eigene Kommission den Mindestlohn fest
Zur Erinnerung: Als der Mindestlohn eingeführt wurde, übertrug die damalige Bundesregierung aus Union und SPD das Festlegen seiner Höhe einer Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaftern. Damit sollte sichergestellt werden, dass er nicht zum Spielball politischer Interessen wird und am Ende die Partei die nächste Wahl gewinnt, die den höchsten Mindestlohn verspricht.
Mit diesem Prinzip hat die SPD schon einmal brutal gebrochen, indem sie im letzten Bundestagswahlkampf einen Mindestlohn von zwölf Euro versprach und ihn an der Kommission vorbei auch Gesetz werden ließ. Ein ähnliches Manöver plant Scholz nun offenbar auch mit Blick auf die Wahl im Herbst nächsten Jahres: Während die eigentlich zuständige Kommission für Anfang 2025 eine Anhebung um 41 Cent auf auf 12,82 Euro empfiehlt, will der Kanzler den Mindestlohn im Januar auf 14 und in einem weiteren Schritt dann auf 15 Euro erhöhen.
Ganz abgesehen davon, dass auch solche Löhne von denen, die sie bezahlen, erst einmal erwirtschaftet werden müssen, zumal in konjunkturell flauen Zeiten: Mit der erneuten Instrumentalisierung des Mindestlohnes strafen sich die Sozialdemokraten auch selbst Lügen. Noch im Dezember hatte ihr Generalsekretär Kevin Kühnert gesagt: „Das Ziel der SPD ist nicht, immer neue Mindestlohnhöhen auf Wahlplakate zu drucken.“ Und lange vor ihm hatte auch schon die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles gewarnt: „Ein politisch festgesetzter Mindestlohn öffnet Populismus und Willkür Tür und Tor.“ Tatsächlich aber, so scheint es, hat Scholz genau das vor – den Mindestlohn noch einmal zum Wahlkampfschlager zu machen. Neben einem wenig überzeugenden Gegenkandidaten hat ja nicht zuletzt sein Versprechen von mindestens zwölf Euro pro Stunde dafür gesorgt, dass er überhaupt Kanzler werden konnte.
Die SPD versündigt sich an der arbeitenden Mitte
Ja, Geringverdienern macht die Inflation mehr zu schaffen als anderen Arbeitnehmern. Und es mag auch sein, dass die von der Kommission errechnete Erhöhung von 41 Cent zum Jahreswechsel am unteren Rand des Möglichen liegt. Mit seinem Vorgehen allerdings betreibt Scholz nicht nur die faktische Entmachtung der Mindestlohnkommission – er versündigt sich auch an der arbeitenden Mitte des Landes, deren Löhne und Gehälter deutlich langsamer steigen als die der schlechter ausgebildeten und im Zweifel weniger leistungsfähigen Mindestlöhner.
Um diesen Effekt abzumildern, müssten die Tarifgehälter deutlich stärker steigen oder die Steuern und Abgaben für die arbeitende Mitte sinken – in beide Richtungen aber führt gerade kein Weg. Dazu kommt noch ein drittes, bisher kaum diskutiertes Problem: Wenn der Staat den Mindestlohn regelmäßig überproportional erhöht und Gewerkschaften in Tarifverhandlungen für die unteren Lohngruppen nicht signifikant mehr als diese 14 oder 15 Euro herausverhandeln, schwächt das auf Dauer auch die Gewerkschaften. Damit würde sich die SPD dann auch noch an ihnen versündigen.
Scholz allerdings ist das berühmte Hemd näher als der Rock. Seine Aussichten, Kanzler zu bleiben, sind im Moment eher gering – umso größer ist offenbar seine Bereitschaft, mit Regeln zu brechen, die die SPD selbst einst mit aufgestellt hat.