Der 8. und 9. November sind in der jüngeren deutschen Geschichte prägende, schicksalshafte Tage. 1848 scheiterte die März-Revolution – und mit ihr der Traum von Freiheit. 1918 wurde die Weimarer Republik ausgerufen – der nächste Versuch einer freiheitlich verfassten Demokratie. Der 9. November 1938 steht für das absolute Gegenteil. Die Nazis ermorden und misshandeln in einer Pogromnacht tausende Jüdinnen und Juden, brennen Synagogen nieder. Es ist der Tag, an dem sich der fanatische Antisemitismus, der Vernichtungswille Hitlers, unmaskiert und zentral angeordnet zur Schau stellt. Wohin das führte, ist bekannt: dem singulären Menschheitsverbrechen, begangen von Deutschen an den Juden, der Shoa. Und zum Zweiten Weltkrieg, mit seinen Abermillionen weiteren Toten. "Nie wieder" gehört seitdem zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Das ist zumindest der Anspruch. Allerdings steigt der Judenhass in Deutschland wieder. Und zwar deutlich. Und das schon vor dem 7. Oktober dieses Jahres.
Nie wieder. Zur Erfüllung dieses Anspruchs bleibt es zentral, sich zu erinnern, besser zu verstehen. Und zentral für das Verständnis vom Aufstieg der Nationalsozialisten und das von ihnen ausgelöste Leid sind die Novembertage des Jahres 1923. Sich das bewusst zu machen, ist heute, wo Jüdinnen und Juden in der Folge der Hamas-Anschläge in Deutschland wieder um Leib und Leben fürchten müssen, wo die sogenannte – in Teilen als rechtsextrem eingestufte – Alternative für Deutschland mehr und mehr Wähler für sich gewinnen kann, umso bedeutsamer.
10 Jahre nach dem ersten Putschversuch war Hitler am Ziel und die Weimarer Republik am Ende
Vor 100 Jahren, am 8. November, versuchte sich Adolf Hitler zum ersten Mal an die Macht zu putschen. Er scheiterte. Hitler wurde wegen Hochverrats angeklagt. Er konnte den Prozess allerdings für seine Propagandazwecke nutzen, kam bald aus der Haft frei, begann seinen zweiten Aufstieg. 10 Jahre später, 1933, war er am Ziel und die Weimarer Republik am Ende.
Aber eben schon zehn Jahre vorher, in der Nacht zum 9. November 1923, mussten in Geiselhaft genommene Juden in München erfahren, was Hitler für sie bedeuten würde. Michael Brenner, Professor für jüdische Geschichte in München, beschreibt in seinem jüngsten Buch "Der lange Schatten der Revolution: Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 bis 1923" verschiedene Szenen dieser Novembernacht, die in der Erkenntnis mündeten: "Sie realisierten, dass es bei einer wirklichen Machtübernahme durch Hitler den Nationalsozialisten ernst damit war, ihre bisherige judenfeindliche Rhetorik in die Tat umzusetzen." In einem FAZ-Beitrag betonte Brenner diese Woche: "Der 9. November 1938 begann am 9. November 1923. Es wird Zeit, dass man diese Daten beim richtigen Namen nennt."
Die Feinde der Demokratie – das ist eine Übereinstimmung mit Weimar – werden nicht weniger
Hätte der Putsch 1923 nur eine Episode des Krisenjahres 1923, mit Hyperinflation, Ruhrkrise und vielen anderen, die junge Weimarer Demokratie spaltenden Ereignissen bleiben können? Das ist eine Spekulation, die Historikerinnen und Historiker zu Recht vermeiden. Wenn aber etwas zu lernen, zu verstehen ist, heute, an einem solchen Tag, 100 Jahre danach, dann vielleicht das: Es gilt, wachsam zu sein, viel aufmerksamer als zuletzt. Demokratien scheiterten selten von jetzt auf gleich, und der Vergleich von Weimar zur Gegenwart hinkt. Die Feinde der Demokratie allerdings werden – wie damals – nicht weniger. Dass sich Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, ist der traurigste Beleg dafür.