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Koalitionsstreit: Österreichs Regierung macht weiter und ist dennoch am Ende

Koalitionsstreit

Österreichs Regierung macht weiter und ist dennoch am Ende

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    Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer ist wütend auf seine grünen Koalitionspartner.
    Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer ist wütend auf seine grünen Koalitionspartner. Foto: Helmut Fohringer, dpa

    Rund 80 Prozent der Österreicher sind laut Umfrage des WWF „auf jeden Fall“ oder „eher doch“ dafür, aber der Kanzler ist dagegen: Das Renaturierungsgesetz, oder eher dessen Beschluss am Montagvormittag im Rat der EU-Umweltminister in Luxemburg sorgt in der konservativen ÖVP, der Partei von Bundeskanzler Karl Nehammer, für massiven Ärger – und mal wieder passieren in Österreich bisher ungesehene Dinge. 

    Dass ein Bundeskanzler der eigenen Ministerin, wenn auch vom kleineren Koalitionspartner, den Grünen, eine Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs androht, hat es selbst in der skandalerprobten Alpenrepublik so noch nie gegeben. Der Hintergrund: Umweltministerin Leonore Gewessler gab am Montag, quasi im Alleingang, mit ihrer Zustimmung den Ausschlag für den Beschluss des EU-Gesetzes.

    Allerdings tat sie dies nicht im Einvernehmen mit dem ÖVP-geführten Landwirtschaftsministerium, wie es in Österreich laut Verfassungsrechtsexperten das Gesetz vorsieht. Auch ist strittig, ob Gewessler mit ihrer Zustimmung die Bundesländer, in deren Kompetenz Naturschutzthemen in Österreich liegen, übergangen hat. Rein formal gibt es einen ablehnenden Beschluss der Länder. Allerdings scherten Wien und Kärnten, beides SPÖ-geführte Länder, schon vor Wochen aus – Wiens sozialdemokratischer Bürgermeister Michael Ludwig unterstützt seitdem offensiv die grüne Ministerin. Diese sieht damit die einheitliche Position der Länder nicht mehr gegeben und stützt sich auf juristische Gutachten, die ihr ein rechtskonformes Vorgehen in Luxemburg attestieren würden, wie Gewessler mehrfach betonte. Die ÖVP verweist ihrerseits auf den Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt – dieser hatte in Abrede gestellt, dass Gewessler in dieser Situation eigenmächtig entscheiden könne. 

    EU-Naturschutzgesetz: Gewessler sagt ja, Nehammer schäumt

    Jetzt schäumt die Kanzlerpartei. Nehammer selbst trat am Montagnachmittag in Brüssel vor die Kameras und sprach von einem „Verfassungsbruch“ durch die grüne Ministerin, das Vertrauen in die Zusammenarbeit mit den Grünen sei schwer erschüttert. Dennoch: Die ÖVP führt nun das Kunststück vor, die Regierung de facto aufzulösen und sie gleichzeitig weiterzuführen, wenn auch nur mehr formal.

    Klimaschutzministerin Leonore Gewessler ist in der Kritik. Sie stimmte dem EU-Renaturierungsgesetz zu – quasi im Alleingang.
    Klimaschutzministerin Leonore Gewessler ist in der Kritik. Sie stimmte dem EU-Renaturierungsgesetz zu – quasi im Alleingang. Foto: Alex Halada, APA/dpa

    „Mit so einem krassen Fehlverhalten müsste die Koalition beendet werden“, sagte Nehammer am Montag. Das tue er allein deshalb nicht, um der Bevölkerung zu ersparen, dass „das Land im Chaos versinkt“ und es bis zum 29. September, dem Termin der Nationalratswahlen, im Parlament ein „freies Spiel der Kräfte“ gebe. Nehammer bekräftigte, dass er beim Europäischen Gerichtshof eine Nichtigkeitsbeschwerde einbringen werde. Das dürfte auf EU-Ebene ebenso für Kopfschütteln sorgen, wie die Briefe, mit denen Nehammer versuchte, erst Gewesslers Abstimmungskompetenz auszuhebeln und schließlich die Aufhebung des Beschlusses der EU-Minister zu erwirken. 

    Wurde die ÖVP von den Grünen kalt erwischt?

    In Wien rätselt man nun darüber, ob die Strippenzieher in der ÖVP vom Vorgehen der grünen Umweltministerin einfach überrascht wurden, oder dem kleinen Koalitionspartner den eigenmächtigen Schritt schlicht nicht zugetraut hatten. Dabei hatten die Grünen schon vor geraumer Zeit eine härtere Gangart angekündigt: Als die Kanzlerpartei im Dezember 2022 gegen den Willen der Grünen im EU-Rat ein Veto gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens einlegte, sahen die Grünen das als groben Vertrauensbruch. In eine Blockadehaltung wollte man damals dennoch nicht gehen. Die Koalition hielt auch, als der ÖVP-Landwirtschaftsminister für die Absenkung der Umweltstandards in der EU-Agrarpolitik stimmte – gegen den Willen der grünen Umweltministerin, die dabei auch mitzureden hatte. 

    Die Liste an Fällen, in denen sich die Grünen bei für sie wichtigen Themen aus den Bereichen Klimaschutz oder Migration der übermächtigen ÖVP beugen mussten, ließe sich fortsetzen. Gewesslers EU-Alleingang kann so als eine Art Befreiungsschlag aus der Geiselhaft der ÖVP gedeutet werden – zu der sie stets dennoch eine gute Miene abgegeben hatten. Dass Nehammers Regierung in den verbleibenden Wochen bis zur Wahl in zentralen Bereichen noch Einigungen erzielen kann, gilt nun als de facto ausgeschlossen. 

    FPÖ-Chef Herbert Kickl lauert bereits

    Profitieren will von der Situation jedenfalls FPÖ-Chef Herbert Kickl. Der Rechtspopulist forderte Nehammer dazu auf, Gewessler dem Bundespräsidenten zur Entlassung vorzuschlagen. Tue er das nicht, würde die FPÖ im Parlament einen Misstrauensantrag stellen – dann wäre der wahlkämpfende Kanzler tatsächlich gezwungen, sich hinter seine Ministerin zu stellen, die er umgekehrt mit einer strafrechtlichen Anzeige bedacht habe. 

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