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Koalition: Große Koalition: Nachts um drei bricht das Eis

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Große Koalition: Nachts um drei bricht das Eis

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    Hier im Bundestag werden die Entscheidungen getroffen, mit denen Deutschland geleitet werden soll. Nun steht auch fest: Es wird eine Große Koalition sein, die die Gesetze dazu verabschiedet.
    Hier im Bundestag werden die Entscheidungen getroffen, mit denen Deutschland geleitet werden soll. Nun steht auch fest: Es wird eine Große Koalition sein, die die Gesetze dazu verabschiedet. Foto: Michael Kappeler/dpa

    Natürlich hat Sigmar Gabriel nicht vergessen, was Alexander Dobrindt schon alles über ihn gesagt hat. Dass er übergewichtig sei und unterbegabt, zum Beispiel. Aber soll er sich darüber jetzt noch aufregen, wo sie vielleicht bald nebeneinander im Kabinett sitzen? Der SPD-Vorsitzende, selbst alles andere als ein handzahmer Wahlkämpfer, nimmt die Frage nach seinem ganz persönlichen Verhältnis zum CSU-Generalsekretär deshalb mit Humor. „Zu 50 Prozent“, sagt der seit jeher gut im Futter stehende Gabriel grinsend, „hat er ja recht gehabt.“

    Der Dicke und der Derbe

    Der Dicke und der Derbe: Sie haben, so scheint es, ihren Frieden miteinander gemacht – und beileibe nicht nur sie. Dafür, dass ihre Parteien bis zum 22. September partout nichts miteinander zu tun haben wollten, reden die meisten künftigen Koalitionäre am Tag danach nicht nur ausgesprochen nett übereinander, sondern gehen geradezu kumpelhaft miteinander um. Anders als bei Guido Westerwelle vor vier Jahren hat Horst Seehofer dem Kollegen Gabriel zwar am Ende dieser Koalitionsverhandlungen noch nicht das Du angeboten. Das aber, deutet der CSU-Chef an, könne sich ändern, „wenn er seinen Mitgliederentscheid gewinnt“.

    Um sechs Uhr morgens ins Bett und um zwölf vor die Presse

    Ein wenig blass ist er noch um die Nase, der Ministerpräsident aus München, aber das ist auch kein Wunder, wenn man nach einer langen Nacht im Willy-Brandt-Haus erst um sechs Uhr morgens ins Bett kommt und um zwölf Uhr schon wieder vor der Hauptstadtpresse sitzen und seinen Koalitionsvertrag erläutern soll – ein Kraftakt, auch für Hartgesottene. Dafür wirkt die Kanzlerin umso ausgeschlafener. Wenn sie etwas könne, erzählt sie, dann eines: „warten“. Und überhaupt: in Europa gebe es Länder genug, in denen die Bildung einer Regierung deutlich länger dauere.

    Brocken aus dem Weg zu räumen

    Große Koalitionen in Deutschland

    Wenn die SPD-Basis zustimmt, gibt es die dritte große Koalition auf Bundesebene. Die beiden Vorläufer wurden von der CDU geführt: von 1966 bis 1969 von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und von 2005 bis 2009 von Angela Merkel.

    1966 bis 1969: Die erste Große Koalition kommt nach dem Scheitern der schwarz-gelben Regierung von Ludwig Erhard (CDU) am 1. Dezember 1966 mit der Wahl Kiesingers (CDU) zustande. Außenminister ist SPD-Chef Willy Brandt, dessen Partei im Bund erstmals Regierungsverantwortung übernimmt. Überwindung der Rezession, Notstandsgesetze und Annäherung an den Osten sind zentrale Themen. Bei der Bundestagswahl im September 1969 bleibt die Union zwar stärkste Kraft, verliert aber die Macht an Brandts SPD/FDP-Koalition.

    2005 bis 2009: Bei der Wahl 2005 reicht es weder für eine Fortsetzung von Rot-Grün noch für eine schwarz-gelbe Regierung. So wird die CDU-Vorsitzende Angela Merkel nach einigem Sträuben der Sozialdemokraten Chefin der zweiten großen Koalition. Die Regierung sorgt mit Konjunkturpaketen für eine Belebung des Arbeitsmarkts. Mit ihrem Finanzminister Peer Steinbrück - der dann 2013 ihr Herausforderer ist - stemmt Merkel sich gegen die 2008 ausgebrochene weltweite Finanzkrise. Bei der Wahl im September 2009 erleidet die SPD ein Debakel und muss in die Opposition. Merkels Union koaliert mit der FDP.

    17 Stunden hat eine kleine Gruppe von Unterhändlern von Union und SPD gebraucht, die letzten Brocken noch aus dem Weg zu räumen, und natürlich fühlt sich jetzt, da die Dinge fürs Erste geregelt sind, jeder als Sieger. Horst Seehofer hat sein Betreuungsgeld verteidigt, die höheren Mütterrenten und seine Maut bekommen, Angela Merkel einen soliden Haushalt und Sigmar Gabriel seinen Mindestlohn, die doppelte Staatsbürgerschaft und noch eine Menge mehr. Dass die 475 000 Mitglieder seiner Partei ihm dennoch einen Strich durch die Rechnung machen, glaubt er nicht: Sie werden, prophezeit der Parteichef, „mit Sicherheit zustimmen“.

    „Hinnehmen von Mehrstaatlichkeit“

    Wie so oft sind es am Ende die Finanzen, an denen sich die Geister scheiden. Auf gut 50 Milliarden Euro haben sich die Wünsche der künftigen Koalitionäre in den vergangenen fünf Wochen addiert, nun einigen sich CDU, CSU und SPD auf eine Obergrenze von 23 Milliarden Euro. Noch stärker überwinden aber, deutet Gabriel an, muss die Union sich im Streit um die doppelte Staatsbürgerschaft, der vor zwei Wochen schon fast beigelegt schien.

    Mit dem „Hinnehmen von Mehrstaatlichkeit“, wie es im Bürokratendeutsch etwas kryptisch heißt, brächen die Konservativen nun ein Tabu, sagt der SPD-Chef – und fügt anerkennend hinzu, die C-Parteien hätten hier „verdammt viel Mut bewiesen“. Die Kanzlerin selbst drückt es etwas diplomatischer aus: „Es hat ein bisschen gedauert.“ Andererseits seien die Kinder von Einwanderern, die in Deutschland geboren wurden, „Teil unserer Gesellschaft“. Der Optionszwang, nach dem sie sich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen, soll nun ersatzlos gestrichen werden.

    Gestandene Ministerpräsidenten und Bundesminister sind zum Warten verdammt

    Es ist eine Nacht, wie das politische Berlin sie lange nicht mehr erlebt hat. Die Mitglieder der großen Verhandlungsrunde, insgesamt 77 an der Zahl, sind von Merkel, Seehofer und Gabriel bereits für Dienstagabend, 19.30 Uhr, einbestellt worden, als stünde eine Einigung unmittelbar bevor. Bis die Runde gegen 5.30 Uhr morgens dann tatsächlich zusammentritt und dem Vertrag formell ihren Segen gibt, werden allerdings noch zehn ermüdend lange Stunden vergehen. Selbst gestandene Ministerpräsidenten und Bundesminister sind zum Warten verdammt, was dem Binnenklima der neuen Koalition aber durchaus förderlich ist, weil so plötzlich Menschen miteinander ins Gespräch kommen, die sich bisher allenfalls flüchtig kannten oder einander in wechselseitiger Ablehnung verbunden waren. Menschen wie Peter Hintze und Ralf Stegner.

    Andere dokumentieren die Nacht in den sozialen Netzwerken

    Der frühere CDU-General unterhält sich bestens mit dem SPD-Linken und schmunzelt anschließend: „Da hätte er im Leben nicht mit gerechnet – ich übrigens auch nicht.“ Andere verfolgen, ein Bier in der Hand, die Übertragung des Fußballspiels zwischen Borussia Dortmund und dem SSC Neapel. Wieder andere dokumentieren die Nacht der Entscheidung in den sozialen Netzwerken: Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner, zum Beispiel, verschickt ein Foto an ihre Fangemeinde, das sie mit ihren Kollegen Armin Laschet und Ursula von der Leyen auf einer Treppe im Brandt-Haus sitzend zeigt – und einen grinsenden Stegner obendrein. Thomas Oppermann, der Geschäftsführer der SPD-Fraktion, lichtet Innenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU ab, der müde in seinem Stuhl lümmelt. Es ist ein wenig wie bei einer Klassenfahrt, langweilig und unterhaltsam zugleich. Jeder quatscht mit jedem, während alle darauf warten, dass endlich etwas passiert.

     Sicherheitshalber die Zahnbürste eingepackt

    Alexander Dobrindt hat sicherheitshalber seine Zahnbürste eingepackt, ahnend, dass es erstens lange dauern und zweitens ziemlich kompliziert werden könnte. Bis Mitternacht sind mit den Renten und dem Mindestlohn zwar zwei der heikelsten Themen so gut wie abgeräumt. Wie viel Geld Union und SPD für ihre vielen teuren Vorhaben allerdings zur Verfügung haben, ist noch unklar, als die Kanzlerin, Seehofer und Gabriel die kleine Runde mit den Generalsekretären, den Fraktionsvorsitzenden und einigen Fachpolitikern verlassen und bis drei Uhr morgens in noch kleinerer Runde Fakten schaffen – in einem Gespräch zu dritt. Dem Gespräch, das das Eis endgültig bricht.

    Wer der neuen Bundesregierung alles angehören wird, lassen die drei Parteivorsitzenden entgegen den üblichen Gepflogenheiten noch im Unklaren. Die SPD-Spitze will während des Mitgliederentscheides jeden Anschein vermeiden, ihr ginge es vor allem um prestigeträchtige Ministerposten. Dafür muss es nach dem Votum der Basis dann umso schneller gehen: Am 14. Dezember will die Partei in Berlin die Stimmen auszählen, drei Tage später soll Angela Merkel bereits als Kanzlerin vereidigt werden. Dann muss auch die neue Ministerriege stehen.

    Durch die Reihen der Genossen geht ein anerkennendes Raunen

    Bis dahin wird vor allem in den Ortsvereinen der SPD noch heftig diskutiert werden. Dass selbst ein ausgewiesener Linker wie Ralf Stegner einräumt, die Partei habe m großen Feilschen mit der Union „eine Menge erreicht“ ist zwar ein starkes Indiz – sicher sein aber kann Gabriel sich noch nicht. Wenn seine Partei allerdings auch nur annähernd so tickt wie seine Verhandlungsdelegation, ist die Große Koalition beschlossene Sache. Als der Parteichef und Generalsekretärin Andrea Nahles ihre wartenden Genossen am frühen Mittwochmorgen über die Ergebnisse der Dreier-Runde informieren, geht ein anerkennendes Raunen durch die Reihen. Offenbar ist Gabriel nicht ganz so unterbegabt, wie Kollege Dobrindt glaubt.

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