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Klimakrise: Was kann gesellschaftlichen Wandel beschleunigen?

Klimakrise

Was kann gesellschaftlichen Wandel beschleunigen?

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    Protestbewegungen wie "Fridays for Future" hätten laut Forscherinnen und Forscher gezeigt, welches Potenzial gesellschaftliche Dynamiken haben.
    Protestbewegungen wie "Fridays for Future" hätten laut Forscherinnen und Forscher gezeigt, welches Potenzial gesellschaftliche Dynamiken haben. Foto: Ralf Lienert (Archivbild)

    Hitze, Fluten, Luftverschmutzung: Die vergangenen Jahre haben einen intensiven Vorgeschmack gegeben auf die Extreme, die mit jedem Jahr der Erderhitzung alltäglicher werden. Die weltweite Durchschnittstemperatur erklomm vom 3. bis 6. Juli die höchsten Werte seit Beginn der Aufzeichnungen 1979. Der US-Sender CNNtitelte, es handle sich wohl um die heißesten Tage auf der Erde seit 100.000 Jahren. Die Klimakrise schreitet voran – doch kann die Gesellschaft da noch mithalten? Wie passen die Dringlichkeit des Themas und die Schwerfälligkeit bei gesellschaftlichen Veränderungen zusammen? Während Protestbewegungen wie "Die letzte Generation" am Tempo des umweltpolitischen Fortschritts fast verzweifeln, überkommt andere die Angst vor einschneidenden Wohlstandsverlusten. Wie aber kann Veränderung unter diesen Voraussetzungen funktionieren?

    Eine Erfahrung, die selbst führenden Klimaforschern dennoch Hoffnung macht, ist die der sogenannten sozialen Kipppunkte. Beschrieben werden mit diesem Begriff Punkte, an denen es zu einem abrupten, dauerhaften und tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel kommt. Beispiele aus der Geschichte gibt es mehrere. Eines davon ist Rosa Parks. Als die afroamerikanische Bürgerrechtlerin sich im Jahr 1955 weigerte, einem weißen Fahrgast ihren Sitzplatz im Bus zu überlassen, bereitete das dem langen Kampf für Gleichstellung den Weg. Ihrem Einsatz wird das Ende der amerikanischen Rassegesetze zugeschrieben. 

    Ein wichtiger Punkt dabei: Die Veränderungen kamen nicht aus dem Nichts. Dem Umbruch gehen in der Regel jahrelange wachsende Unzufriedenheit, Kämpfe und Bemühungen voraus, die aber für sich keine Veränderung bewirken konnten. Was sie schafften: Sie füllten das sprichwörtliche Fass Stück für Stück, bis es mit Rosa Parks Widerstand am Ende nur noch einen kleinen Tropfen brauchte, um es zum Überlaufen zu bringen.

    Soziale Kipppunkte kann man auf verschiedenen Ebenen anstoßen

    Ein Team um die Soziologin Ilona Otto befragte für eine Studie Fachleute, zu den vielversprechendsten Maßnahmen, die dazu führen können, dass Gesellschaften bis spätestens 2050 keine Treibhausgase mehr ausstoßen. Vieles davon waren die üblichen politischen Steuerungsinstrumente: keine Subventionen und Investitionen mehr in fossile Energien etwa. Doch auch Bewegungen wie "Fridays for Future" maßen die Forscherinnen und Forscher eine besondere Bedeutung zu: Sie hätten gezeigt, welches Potenzial gesellschaftliche Dynamiken haben, um zu einem "Wandel von Werten und Normen" beizutragen.

    Kann also die Gründung von Fridays for Future als sozialer Kipppunkt betrachtet werden? Experten sind zumindest vorsichtig in ihrer Beurteilung. Denn wie sich gesellschaftliche Werte wandeln, lässt sich nur schwer vorhersagen. Und dennoch sagt der Leiter der Forschungsgruppe "Ökologische Konflikte", Vincent August von der HU Berlin: Protestbewegungen sind durchaus in der Lage, Dinge zu verändern – oder Veränderungen anzustoßen. "Fridays for Future ist es in beispielhafter Weise gelungen, das Thema Klimakrise auf die öffentliche Agenda zu setzen", sagt der Konfliktforscher. 

    Welche Rolle spielt die "Letzte Generation"?

    Wie erfolgreich umstrittenere Bewegungen wie die "Letzte Generation" sind, sei schwieriger zu beurteilen. So mancher Kritiker sei nicht daran interessiert, das Thema an sich zu diskutieren. "Deswegen sprechen sie lieber darüber, ob die Letzte Generation so überhaupt protestieren darf", sagt August. Und genau das setzt sich inzwischen in vielen Köpfen fest. Die Unterstützung für die Klima- und Umweltbewegung in Deutschland hat sich einer Umfrage der Organisation "More in Common" zufolge in den vergangenen beiden Jahren halbiert. Dass sie grundsätzlich ihre Unterstützung habe, hatten 2021 noch 68 Prozent der Befragten erklärt, im Mai 2023 waren es nur 34 Prozent. Andere Studien zeigen hingegen laut August, dass der Protest der Letzten Generation teilweise bei den Menschen das Bewusstsein für die Klimakrise steigere, selbst wenn die Befragten die Methoden ablehnen. 

    August warnt deshalb davor, sich bereits ein endgültiges Urteil abzuleiten. Die Gesellschaft befände sich aktuell noch mitten im Konflikt – rückblickend ändere sich der Blick auf Protestbewegungen häufig. Die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King etwa wurde zunächst von weiten Teilen der Bevölkerung angefeindet und kriminalisiert. Und auch Fridays for Future war anfangs heftig umstritten, sogar Bußgelder für das Schulschwänzen wurden angedroht – heute hingegen ist die Gruppe weithin respektiert. 

    "Inseln der Transformation" gibt es überall

    Auch äußere Ereignisse können die gesellschaftliche Haltung verändern – und damit für andere politische Ausgangssituationen sorgen. Ein Beispiel war die Katastrophe in Fukushima: In kurzer Zeit wurden die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke zurückgenommen und der Atomausstieg beschlossen. Und auch der Ukraine-Krieg hat beeinflusst, wie Menschen auf das Thema Energieverbrauch blicken. Stephan Bosch forscht als Humangeograf an der Universität Augsburg. Er sagt: "Der Ukraine-Konflikt hat den Diskurs stark verändert. Jetzt geht es viel eher darum, wie man mit den eigenen Flächen in der Energieproduktion und -versorgung unabhängiger werden kann, jenseits von den Klimazielen", sagt Bosch. Das habe die Akzeptanz von erneuerbaren Energien vor der eigenen Haustür deutlich erhöht. 

    Markus Keck, Lehrstuhlinhaber des Zentrums für Klimaresilienz an der Universität Augsburg, sieht viel Potenzial für gesellschaftliche Veränderungen auch abseits der großen Protestbewegungen und weltpolitischen Ereignisse. Für ihn gibt es "Inseln der Transformation" überall – und schon auf einer sehr individuellen Ebene. Selbstversorgende Wohngemeinschaften etwa. Oder Fahrgemeinschaften. "Wir können solche sozialen Kipppunkte auch selbst proben. Und wenn es praktikabel ist, werden die Lösungen weitergegeben", sagt Keck. 

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