Ikbal und Tobias stehen ganz vorne. Sie führen mit ein paar anderen Schülern den Protestzug an, der sich vom Augsburger Rathausplatz aus langsam in Bewegung setzt. Es ist Freitagvormittag um elf. Schulzeit. Die tausend jungen Menschen aber interessieren sich nicht für Unterricht. Nicht heute. An der Spitze des Zuges tragen Ikbal und Tobias große schwarze und rote Buchstaben auf weißem Grund vor sich her: „Burn borders, not cole!“ – „Verbrennt Grenzen, keine Kohle!“, lautet die Botschaft auf dem alten Laken. Mit dem Megafon gibt Ikbal die Parole vor: „Anticapitalista!“ Die Menge hinter ihm wiederholt den Ruf.
Das war vor zwei Wochen in Augsburg – und in mehr als 100 in anderen Städten in ganz Deutschland. Sieben Tage später dasselbe. Und am heutigen Freitag werden wieder tausende Schüler auf die Straße gehen und für das Klima demonstrieren. Was erst nur ein Hashtag im Internet war, ist jetzt weltweites Motto: Fridays For Future. Manche sprechen von einer neuen politischen Strömung mit dem Potenzial der Montagsdemonstrationen, die Ende der achtziger Jahre zum Sturz der DDR beigetragen haben. Montags gegen die Diktatur, freitags für die Zukunft.
Die 16-jährige Greta Thunberg hat die Jugend in Europa aufgerüttelt
Zwei Wochen nach ihrem Klimastreik sitzen Ikbal und Tobias nach dem Nachmittagsunterricht im Café der Augsburger Stadtbücherei. Sie haben eine Stunde Zeit, danach steht Lernen für die nächste Klausur an. Wie das mit der Anonymität sei, erkundigt sich der eine. Es habe Ärger gegeben, erklärt er. Schüler wurden zum Direktor gerufen, angeblich weil er die Namen im Zusammenhang mit dem Schülerstreik vor zwei Wochen in der Zeitung gelesen hatte. Deshalb wollen der 16- und der 17-Jährige ihren richtigen Namen nicht nennen. Beide gehen in die Oberstufe am Holbein-Gymnasium in der Augsburger Innenstadt. Tobias spricht leise und murmelt die Worte manchmal mehr zu sich selbst. Wenn es um die Demos geht, ist seine Stimme deutlich und klar. „Viele in unserer Generation machen sich Sorgen um die Zukunft.“ Und das, so sagt er, auch schon lange bevor in Schweden ein junges Mädchen stellvertretend für eine ganze Generation ihren Streik begann.
Im August noch stand Greta Thunberg, 16, ganz allein auf dem Parlamentsplatz in Stockholm. Mit einem Schild, das größer war als sie selbst: „Schulstreik für das Klima“ stand da. Zeitungen begannen, über das Mädchen zu berichten. Andere Schüler protestierten mit. Erst in Stockholm, irgendwann überall in Schweden. Bald gingen in Australien 15.000 Schüler auf die Straße, in den USA, in Kanada und seit Herbst auch in Deutschland. Greta Thunberg kennt heute die ganze Welt. Eine schwedische Kirchengemeinde nennt sie die „auserwählte Nachfolgerin von Jesus von Nazareth“. Im Internet wird sie verklärt oder massiv angefeindet als „Geistesgestörte“. Fest steht: Sie ist das Mädchen, das deutsche Jugendliche aus der Komfortzone treibt.
Ist die "Generation Z" wirklich so unpolitisch, wie man es ihr nachsagt?
Genau das ist der Vorwurf an diese Generation der um das Jahr 2000 Geborenen, in der Soziologie als Generation Z bezeichnet: dass sie sich mehr für ihr Smartphone interessiert als für das, was um sie herum passiert. Wer so weich gebettet und so von der blühenden Wirtschaft umworben ist, macht sich keine Sorgen um seine Zukunft, heißt es. Und dass für die Jugendlichen heute vor allem ihr persönliches Wohlbefinden zählt statt das große Ganze. Müssen reihenweise Soziologen jetzt ihre Definitionen ändern, ist die Jugend doch politisch?
Bettina Zurstrassen von der Universität Bielefeld ist selbst Soziologin. Man müsse differenzieren, sagt die Professorin. „Jugendliche haben wenig Interesse an parteipolitischer Arbeit und ein großes Misstrauen gegenüber jeder institutionellen Form von Politik. Ihr Interesse steigt bei eher unkonventionellen Formen politischen Engagements: Demonstrationen, Flashmobs, Online-Diskussionen.“ Natürlich hätten all diese Events auch eine weit geringere Verbindlichkeit als etwa ein Parteibuch. Dass die Streiks während der Schulzeit stattfinden, hält Zurstrassen für wichtig. „Tabubruch und ziviler Ungehorsam sind ein Anreiz für Jugendliche.“ Es gibt reihenweise Beispiele: die 68er, die Anti-Atomkraft-Bewegung in den 70ern, die Punks der 80er Jahre.
Heute seien Klima- und Tierschutz, Umweltfragen und Menschenrechte Bereiche, „für die sich junge Leute besonders interessieren“. Doch sie glaubten eben nicht, über parteipolitisches Engagement etwas erreichen zu können.
Statistiken wie die der Bundeszentrale für Politische Bildung bestätigen das. Neben Frauen, Arbeitern und Menschen mit niedrigem Bildungsgrad sind Jugendliche in Parteien deutlich unterrepräsentiert – vor allem bei den Unionsparteien. Gerade einmal gut fünf Prozent der CSU-Mitglieder sind jünger als 30, nur eines von 100 Mitgliedern ist unter 20 Jahre alt. Am attraktivsten für Junge sind Grüne und Linke, wo etwas mehr als 13 Prozent die 30 noch nicht überschritten haben.
Nimmt die Politik die Klima-Demonstrationen ernst genug?
Auch die Augsburger Tobias und Ikbal wollen nicht in einer Partei für ihre Ziele kämpfen. „Ich kann mir nicht vorstellen, mich darin hochzuarbeiten, um dann irgendwann etwas bewegen zu können. Das Spontane ist viel effektiver und stärker“, findet Tobias. Für ihn können Menschen in der Masse mehr verändern als Parteien. Sind die beiden Jugendlichen – bereits bevor sie das erste Mal wählen dürfen – enttäuscht von der Politik in ihrem Land? „Enttäuscht kann man nur sein, wenn man Erwartungen hatte“, sagt Ikbal. Solche Aussagen müssten etablierte Parteien aufrütteln, findet Soziologin Zurstrassen: „Wenn die Politiker das Vertrauen Jugendlicher in die Demokratie stärken wollen, dann täten sie sich einen großen Gefallen, wenn sie die Demonstrationen ernst nähmen.“
Ludwig Felder ist auch jung, aber er hat das Parteiensystem noch nicht abgeschrieben. Der Informatik-Student engagiert sich bei der Grünen Jugend München und organisiert in einem Team aus ungefähr 20 Leuten die Münchner Fridays-For-Future-Demos – es sind die größten in Bayern. Der 22-Jährige hat in den vergangenen Wochen zwar weniger für sein Studium getan, aber gelernt, wie man Pressearbeit macht und vor mehr als tausend Leuten spricht.
Vergangene Woche zum Beispiel: „Wir streiken, bis sie handeln“, schreit Felder ins Mikrofon. Jubel. Es schneit leicht, er steht auf einem Podest in einem Meer aus Plakaten, das Mikrofon in der Hand. Als er später im Fernsehen ein Interview gibt, sind seine Lippen etwas blau und seine Wangen gerötet – von der Kälte oder der Aufregung, wahrscheinlich von beidem.
Befürworter wehren sich gegen den Vorwurf, die Schüler würden nur den Unterricht schwänzen wollen
Am Freitag wollen wieder mehr als 500 Schüler und Studenten auf den Marienplatz kommen. Auch diesmal werden Leute sagen und Leser in Briefen an die Zeitungen schreiben, dass die Schüler nur keine Lust auf Unterricht hätten, an jedem anderen Tag achtlos Fertiggerichte in sich hineinstopfen und Kaffee aus Plastikbechern trinken. Dass sie von linken Parteien und Öko-Aktivisten instrumentalisiert würden und gar nicht wüssten, was sie da tun.
Der Grüne Ludwig Felder kennt das Gerede. Und er wird dann richtig sauer: „Ich halte das für einen billigen Vorwurf, der vor allem oft aus der konservativen oder rechten Ecke kommt. Die Schülerinnen und Schüler sind selbst mündig genug, um für das Richtige auf die Straße zu gehen, da braucht es gar keine Grünen.“ Genauso sehr ärgert ihn die Annahme, junge Leute würden heute nur um sich selbst kreisen. „Meine Generation denkt politisch.“ Das zeige nicht nur der Klimastreik. Auch gegen das Polizeiaufgabengesetz „sind unglaublich viele von uns auf die Straße gegangen“. Andere hat die Rodung des Hambachers Forsts zum Demonstrieren bewegt. Schüler, meint Felder, müssten sich den Themen aber selbst annähern. „Auf die Schule kann man sich nicht verlassen.“
Ein Studie der Universität Bielefeld hat das im vergangenen Frühjahr bestätigt. Die Forscher suchten in den Lehr- und Stundenplänen der einzelnen Bundesländer nach politischer Bildung. Ihr ernüchterndes Fazit: Wer sich nur im Klassenzimmer über aktuelle Politik informieren lässt, hat ziemlich sicher keine Erklärung für den Aufstieg der AfD. Die GroKo hält er oder sie vielleicht für ein Reptil oder eine Musikrichtung, aber eher nicht nicht für einen politischen Terminus.
Politik der Gegenwart spielt an bayerischen Schulen kaum eine Rolle
In keinem Bundesland spielt die Politik der Gegenwart im Leitfach Sozialkunde eine geringere Rolle als in Bayern. Im neuen neunstufigen Gymnasium nun sind mehr Stunden für politische Bildung vorgesehen. Und die Umweltbildung nimmt im Lehrplan Plus, der an den Schulen in Bayern gerade nach und nach eingeführt wird, mehr Platz ein. Man strebe „eine umfassende Behandlung des Themenbereichs über alle Fächer, Jahrgänge und Schularten hinweg an“, heißt es aus dem Kultusministerium. Zuletzt haben viele Schulen in Bayern Jugendliche, die an den Klimademos teilgenommen haben, nachmittags zu Öko-Projekten verpflichtet.
Viele, die schon den Abschluss in der Tasche haben, sind in der Schule keine Umweltexperten geworden. Karl Geller unterrichtet an der Berufsschule Mindelheim (Unterallgäu) junge Leute, vor allem frühere Mittel- und Realschüler, die gerade eine Ausbildung machen. Geller, seit 30 Jahren Umweltbeauftragter seiner Schule, weiß, dass es die einen gibt, die jetzt freitags ihre Plakate auspacken und die anderen, die nach dem Sportunterricht einfach die heiße Dusche weiterlaufen lassen. Wie groß die Schnittmenge ist? Wie sollte man es wissen. Geller bietet als Wahlfach jedes Schuljahr Energieeffizienzkurse an – und immer sind sie gut besucht. „Die Schüler, die in meine Kurse kommen, vereinen zwei Dinge“, sagt der 62-Jährige, „echtes Interesse und wenig Vorbildung. Kaum einer kann erklären, was eine Kilowattstunde ist!“ Doch Geller merkt eben auch ganz konkret, wie sein Kurs wirkt. Nur ein Beispiel: „Die Schüler gehen nach Hause, drehen ihre alten Lampen raus und ersetzen sie durch LEDs.“
Ikbal und Tobias, den Gymnasiasten aus Augsburg, geht es um viel mehr. „Die Themen sind alle miteinander verknüpft“, sagt Ikbal. „Es ist wichtig, dass wir die Kämpfe verbinden“, ergänzt Tobias. „Gegen den Rechtsruck. Gegen den Kapitalismus. Für die Umwelt.“