„Habemus papam“ rief Protodiakon Jean-Louis Taurant von der Mittelloggia des Petersdoms bewegt ins Mikrofon. Die Menge unten auf dem Platz johlte, tausende Smartphone-Taschenlampen leuchteten in jener römischen Nacht. Zehn ewige Minuten dauerte es dann noch, bevor die Welt den neuen Papst zu Gesicht bekam. „Bergoglio? Wer ist bitte Bergoglio?“, so fragten sich nicht nur damals anwesende Journalisten an jenem 13. März 2013.
Dann stand er auf einmal da. Der bisherige Erzbischof von Buenos Aires. Vielen war er ein Unbekannter. Ganz in Weiß, ohne Prunk, mit einfachem Blechkreuz, damals noch mit Brille, längst nicht so korpulent wie heute, ein freundliches Lächeln auf die Lippen gezeichnet. „Brüder und Schwestern, buonasera!“, sagte Jorge Mario Bergoglio, der Neue auf dem Stuhl Petri. Ein neuer Ton hatte soeben Einzug gehalten in der katholischen Kirche. Wortwahl, Symbolik, Blicke hatten sich über Nacht geändert. Zehn Jahre später hat man sich längst an den Stil gewöhnt, an jene Entzauberung des Papsttums, die bei Johannes Paul II. und Benedikt XVI. noch undenkbar schien.
Es war der Beginn des sanften Populismus von Papst Franziskus
Bergoglio, der sich Franziskus nannte, skizzierte in jenem Moment auf dem Petersplatz bereits sein Programm. Die Kardinäle hätten ihn „fast am Ende der Welt“ hierher geholt und zum Papst gemacht. Mit Franziskus begann die katholische Kirche dann tatsächlich die Ränder der Welt, die Peripherien, stärker ins Blickfeld zu nehmen. Der neue Papst betete mit den Menschen für seinen zurückgetretenen Vorgänger Benedikt XVI. und nannte ihn „emeritierten Bischof“ von Rom. Er wolle einen gemeinsamen Weg gehen, der Bischof mit dem Volk. Er bat vor seinem Urbi et Orbi, dass zunächst das Volk für ihn beten möge. Dieser Moment, kurz nach dem Konklave, war der Beginn des sanften Populismus von Papst Franziskus.
Bergoglio war als Erzbischof umstritten wie heute als Papst. In seinem eigenen Orden, bei den Jesuiten, lästerte man damals über ihn, weil er der Militärjunta in Argentinien zwei Ordensbrüder ausgeliefert habe. Solche Schattenseiten verblassten nun schnell. Tatsächlich war ja bereits die Namenswahl ein unerhörter Schritt. Sich nach dem Heiligen Franz von Assisi zu benennen, bedeutete nicht nur ein Bekenntnis für die Armen, für die Armut der Kirche, sondern auch einen kolossalen Renovierungsauftrag. „Baue meine Kirche wieder auf!“, diese Worte will der Heilige Franz im Jahr 1205 in der baufälligen Kapelle von San Damiano vernommen haben.
Franziskus entzog Privilegien, schuf neue Strukturen, besetzte Stellen neu
Baufällig hatte auch Benedikt XVI. mehr als 800 Jahre später seine Kirche hinterlassen. Der Vatikan machte von sich reden, allerdings durch Klüngel, Korruption und Geldwäsche. Aufräumen sollte Bergoglio nun also, das hatten die Kardinäle vor dem Konklave explizit gefordert. Franziskus, der Außenseiter, dem die römischen Mechanismen selbst verhasst waren, hielt Wort. In zehn Jahren hat er die skandalöse Finanzwelt des Vatikans neu geordnet. Er entzog Privilegien, schuf neue Strukturen, besetzte Stellen neu.
Auch Frauen können künftig Vatikanbehörden leiten
Vor Tagen erst verfügte der 86-Jährige, dass auch Kardinäle und Bischöfe im Vatikan marktübliche Mieten bezahlen müssen und keine Zuschüsse mehr gegeben werden. Okkulte Sondervermögen, wie sie früher üblich waren, schaffte Franziskus ab. Er ließ Güterverwaltung und Bank des Vatikan neu ordnen und setzte ein Wirtschaftssekretariat zur Kontrolle ein. Die katholische Kirche war damit zwar noch nicht wieder aufgebaut, aber der Vatikan immerhin entstaubt.
Mit seiner im vergangenen Jahr vorgelegten Kurienreform, Ergebnis aus den Beratungen seines zu Amtsbeginn eingesetzten Kardinalsrats, ordnete Franziskus dann auch die kirchlichen Strukturen neu. Die bedeutendste Neuerung: Auch Frauen können künftig Vatikanbehörden leiten. Mit Blick auf die Kirche, deren Leitung Franziskus vor zehn Jahren übernahm, ist das ein gewaltiger Schritt.
Papst Franziskus verschanzt sich nicht, er ist greifbar
Symbolik und symbolische Sprache bleiben eine der großen Stärken von Franziskus. Das Bild von der „Kirche als Feldlazarett“, die sich um die verwundeten Seelen in aller Welt kümmert, ist jedoch zu groß, um in der Wirklichkeit Entsprechung zu finden. Pragmatischer war Bergoglios Analyse im Vorkonklave, er habe manchmal den Eindruck, die Kirche sei manchmal so selbstbezogen und weltfremd, als wolle sie Jesus für sich behalten und nicht in die Welt lassen. Nichts treffender als das. Bergoglio, Kandidat einer Seilschaft progressiver Kardinäle um Claudio Hummes, Godfried Daneels, Karl Lehmann und Walter Kasper, hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
Dieser Papst verschanzt sich nicht, er ist greifbar. Man kommt heute auf eigenen Wegen fast bis zu ihm. Nötig ist ein Vorwand, etwa der Besuch des teutonischen Friedhofs im Südosten der Vatikanstadt. Mutige Besucher können sich im Schatten des Petersdoms am Palazzo della Canonica und an den Blicken der Vatikanpolizei vorbeibewegen und stehen nun an der Piazza Santa Marta. Gegenüber das Gästehaus, dessen Eingang von einem Schweizergardisten und einem Gendarmen bewacht wird.
Im zweiten Stock des Vatikan-Hotels lebt seit zehn Jahren Franziskus, weil er nicht im Apostolischen Palast isoliert sein wollte wie Benedikt XVI. Das feine Apartment in Santa Marta erfüllt seinen Zweck. Es hat ein Büro, einen Besprechungsraum sowie ein Schlafzimmer. Nebenan wohnt der Privatsekretär, Besprechungen finden auf der silberblauen Sofagarnitur statt. Franziskus, der wegen Kniebeschwerden seit einem Jahr im Rollstuhl unterwegs ist, isst mit anderen Gästen im Speisesaal und soll sich regelmäßig am Süßigkeitenautomaten im Untergeschoss bedienen. Den bekommt man aber nicht zu Gesicht. Bereits vor dem Hotel wird man als Unbekannter freundlich, aber bestimmt des Platzes verwiesen.
Der Papst hat sich seine Unabhängigkeit erhalten, er lässt sich nicht zügeln
Der Wohnort des Papstes ist Programm, stellt für manche in der Kurie aber durchaus ein Problem dar. Sie fühlen sich übergangen. Franziskus pflege ein ganzes Reich an persönlichen Beratern und treffe Entscheidungen oft, ohne die zuständigen Behörden zurate zu ziehen, lautet eine bekannte Klage aus der Kurie. Der Papst hat sich auf diese Weise seine Unabhängigkeit erhalten, er lässt sich nicht zügeln, verzichtet manchmal aber auch auf wichtige Expertise. Franziskus delegiert, aber er hat auch die Angewohnheit, viele Entscheidungen an sich zu ziehen. Sein Versprechen einer „heilsamen Dezentralisierung“ hat er nicht wahrgemacht. Stattdessen erkennen Vatikan-Beobachter wie John Allen Jr. Tendenzen eines „zunehmend imperialen Papsttums“. Dazu gehört manchmal auch die Chuzpe, gar nicht zu entscheiden. So wie
Die heilsame Dezentralisierung, postuliert in der immer noch lesenswerten Programmschrift Evangelii Gaudium von 2014, ist ein großer Wunsch vieler Ortsbischöfe, die den römischen Zentralismus leid sind. Sie war zusammen mit der gleichzeitigen Ankündigung, den Bischofskonferenzen eine „gewisse, authentische Lehrautorität“ zuzugestehen, auch ein weitreichendes Versprechen. Die Befürworter des deutschen Synodalen Weges können ein Lied davon singen. Sie fühlten sich geradezu animiert von jenen Formulierungen, infolge des Missbrauchsskandals die Machtstrukturen in der Kirche in diesem Sinne zu ändern. Bis heute beißen sie auf Granit.
Und das liegt nicht weniger an den orthodoxen Behördenchefs in Rom, sondern vor allem am Papst selbst. Franziskus mag nach wie vor zu jenen Formulierungen stehen. Die Zeit ist aus seiner Sicht allerdings nicht reif. „Seht selbst!“ Mit diesen Worten ermunterte der Papst zu Beginn seines Pontifikats gemischt konfessionelle Paare, die fragten, ob sie gemeinsam zur Kommunion gehen könnten. Inzwischen macht ihm die eigene Courage, sein Postulat zum produktiven Chaos, Angst. Das Oberhaupt der Katholiken fürchtet Sonderwege wie den Synodalen Weg, weil sie in ein Schisma münden könnten.
Was zu Beginn des Pontifikats wie eine Revolution aussah, stellte sich bald als langwierige Metamorphose heraus. Die Erfahrung der Familiensynoden 2014 und 2015 war lehrreich für Franziskus. Als konkretes Ergebnis erlaubte der Papst danach auf Empfehlung der Bischöfe die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene in Ausnahmefällen. Die Frage, bei der es um das kirchliche Sakrament der Ehe ging, war Gegenstand eines Richtungsstreits geworden. Der konservative Flügel startete eine Gegenrevolution, vier Kardinäle äußerten „Zweifel“ am Lehramt des Papstes und bezichtigten ihn der Häresie. So viel Widerstand hatte es zuletzt im Mittelalter gegeben.
Seine Kritiker hat Franziskus Stück für Stück entmachtet
Nach der Amazonien-Synode 2019 brachte Franziskus nicht mehr den Mut auf, der Mehrheitsempfehlung der Bischöfe nachzukommen. Sie hatten dem Papst grünes Licht gegeben, erstmals verheiratete Männer zu weihen, sogenannte viri probati. Aber Franziskus erfüllte die Forderung nicht. Er hielt sich lieber an sein Motto aus Evangelii Gaudium: Die Zeit ist mehr Wert als der Raum. „Dieses Prinzip lehrt uns“, schrieb Franziskus, „langfristig zu arbeiten, ohne davon besessen zu sein, sofortige Ergebnisse zu erzielen.“ Ein Dämpfer für alle, die es mit dem Wandel eilig haben. Aufgeschrieben im ersten Jahr des Pontifikats.
Heute ist es um die Kritiker still geworden. Kardinäle wie Raymond L. Burke, Gerhard Ludwig Müller, George Pell oder Robert Sarah wurden von Franziskus Schritt für Schritt entmachtet. Keiner seiner namhaften Gegner hat heute noch eine wichtige Position in der Kirche inne. Seine Kritiker erteilten Papst Franziskus dennoch eine Lektion: Der Wandel in der Kirche braucht Zeit. Mehr Zeit, als sich manche wünschen.