Noch nie sind mehr Menschen aus der römisch-katholischen Kirche in Deutschland ausgetreten als im Jahr 2022. Der am Mittwochmittag veröffentlichten "Kirchenstatistik" der Deutschen Bischofskonferenz zufolge kehrten ihr 522.821 Mitglieder den Rücken. Im Jahr zuvor waren es noch 359.338 (2020: 221.390) – und bereits diese Zahl hatte als historisch gegolten.
Massiv fiel der Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen auch im Bistum Augsburg aus. Dort traten 30.921 Menschen aus. 2021 waren es 19.884, 2020 erst 13.042. Bischof Bertram Meier erklärte: "Ich trauere um jeden Menschen, der uns verlässt. Die Kirche hat viel Vertrauen verspielt, unsere Aufgabe ist es, dieses Vertrauen mit Geduld und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen." Gleichzeitig sehe er, wie groß die Sehnsucht nach spiritueller Erfüllung sei.
Mit Spannung erwartet wurden die Kirchenaustrittszahlen 2023 des Erzbistums Köln
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Limburgs Bischof Georg Bätzing, sagte: "Die Zahlen sind alarmierend. Wir können und wollen die Augen nicht vor dieser Entwicklung verschließen." Er warnte vor Resignation und appellierte an Ehren- und Hauptamtliche: "Lassen Sie sich nicht entmutigen."
Mit Spannung erwartet wurden vor allem die Zahlen des Erzbistums Köln. Dort hatte es am Dienstag eine Razzia gegeben. Der unter anderem wegen seines Umgangs mit Missbrauchsbetroffenen umstrittene Kardinal Rainer Maria Woelki steht im Verdacht, vor Gericht unter Eid nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Papst Franziskus lässt ihn trotz eines Rücktrittsgesuchs, das ihm seit mehr als einem Jahr vorliegt, im Amt. Der Verdruss darüber ist groß, und findet seinen Niederschlag offensichtlich auch in den Austrittszahlen.
Im Erzbistum Köln gab es demnach 2022 mit 51.345 Austritten einen nochmaligen massiven Anstieg. 2021 waren es 40.772, 2020 erst 17.281. Woelkis Erzbistum verzeichnete damit die meisten Kirchenaustritte der insgesamt 27 deutschen (Erz-)Bistümer – vor München und Freising mit 49.029 (2021: 35.323) und Freiburg mit 41.802 (2021: 30.043). Diese Zahlen lassen sich allerdings, wie jene aus den Vorjahren, kaum seriös als Votum über die kirchenpolitischen Positionierungen – liberal oder katholisch-konservativ – der jeweiligen Ortsbischöfe interpretieren.
"Wir sind Kirche" appelliert an Ausgetretene, gesparte Kirchensteuer der Kirche nicht ganz zu entziehen
Die Gründe und Auslöser für einen Kirchenaustritt sind Studien zufolge vielfältig. Neben einem individuell oft über Jahre andauernden Prozess der Entfremdung spielen die Skandale der Kirche, ihr Umgang damit und der dadurch entstandene Vertrauensverlust eine wesentliche Rolle.
Das Jahr 2022 war, was die katholische Kirche betrifft, von Debatten über sexualisierte Gewalt geprägt. So wurde zu Jahresbeginn das Münchner Missbrauchsgutachten vorgestellt, in dem sogar dem früheren Erzbischof Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsfällen vorgeworfen worden war. Im Herbst schließlich sorgte die vierte Synodalversammlung des Reformprozesses "Synodaler Weg" bundesweit für heftige Diskussionen und Verärgerung, nachdem katholisch-konservative Bischöfe einen zentralen Beschluss zu einer erneuerten Sexualethik verhindert hatten.
Mit Blick auf die innerkirchlichen Auseinandersetzungen um Reformen und eine nach wie vor "schleppende Missbrauchsaufarbeitung" sagte Christian Weisner von der katholischen Reformbewegung "Wir sind Kirche" unserer Redaktion am frühen Mittwochnachmittag: "Dies sind alles Dinge, die Katholikinnen und Katholiken in Deutschland nicht mehr verstehen können. Sie setzen ihren Kirchenaustritt als Mittel des Protests ein." "Wir sind Kirche" appelliere dennoch an die Ausgetretenen, "der Kirche bitte nicht die gesamte gesparte Kirchensteuer zu entziehen" und gezielt etwa kirchliche Hilfswerke zu unterstützen.
Auch die Zahl der Austritte aus der evangelisch-lutherischen Kirche sind 2022 extrem hoch gewesen
Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte bereits im März ihre Austrittszahlen veröffentlicht. Auch sie stellten mit 380.000 – rund ein Drittel mehr als 2021 – einen Negativrekord dar. Damit sind die knapp 40,1 Millionen katholischen und evangelischen Christen zu einer Minderheit in Deutschland geworden.