Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Kirche: Was Benedikt XVI. sagt und was nicht: Eine kritische Analyse seines Briefes

Kirche

Was Benedikt XVI. sagt und was nicht: Eine kritische Analyse seines Briefes

    • |
    Die Erklärung zum Münchner Missbrauchsgutachten durch den emeritierten Papst Benedikt XVI. hat gespaltene Reaktionen hervorgerufen.
    Die Erklärung zum Münchner Missbrauchsgutachten durch den emeritierten Papst Benedikt XVI. hat gespaltene Reaktionen hervorgerufen. Foto: Sven Hoppe, dpa (Archivbild)

    Möglicherweise ist es das letzte Schreiben, das der emeritierte Papst Benedikt XVI. an die Welt richtet – zumindest was seinen Umgang mit Missbrauchsfällen in den Reihen der katholischen Kirche angeht. Teilweise zeugt es, auf fast anrührende Weise, vom tiefen Glauben eines fast 95-Jährigen, der ein gefeierter Theologe war und in die höchsten Ämter seiner Kirche kam.

    Als „Mitarbeiter der Wahrheit“ wollte er, der mit bürgerlichem Namen Joseph Ratzinger heißt, wirken – und als „einfacher demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn“ gesehen werden. Die Welt aber sah ihn in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten häufig anders, insbesondere Missbrauchsopfer.

    Ratzinger hat Verdienste um die Aufarbeitung geleistet, und doch hat er es – "das dunkle Tor des Todes" vor Augen – am Ende seines langen Lebensweges nicht geschafft, Betroffenen den Eindruck zu vermitteln, er habe wirklich verstanden. Ratzinger war über Jahrzehnte einer der mächtigsten Männer der katholischen Kirche, als empathischer Seelsorger galt er nicht.

    Schon der Kopf des Briefes vermittelt eine Botschaft

    Und so erklären sich auch die Reaktionen auf sein Schreiben: Die einen sehen in ihm ein beeindruckendes Zeugnis eines alten Mannes, der ungerecht behandelt wird. Andere – allen voran Betroffene – können schlicht nicht fassen, was sie hier lesen müssen. Sie fühlen sich einmal mehr nicht nur missverstanden, sondern nachgerade verhöhnt.

    Was also schreibt Benedikt nun in seiner am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme zu den im Münchner Missbrauchsgutachten erhobenen Vorwürfen gegen ihn und zu seiner bisherigen Reaktion darauf? Eine kritische Analyse:

    Schon im Kopf des Schreibens wird ersichtlich, wer da schreibt: „Brief des emeritierten Papstes Benedikt XVI.“ – also nicht: der Privatmann Ratzinger. Sowie: „Aus dem Vatikan, am 6. Februar 2022.“ Veröffentlicht wird der Brief in acht Sprachen und vom Presseamt des Heiligen Stuhls. Es ist ein Zeichen, wie wichtig und ernst der

    Papst Franziskus hat sich bislang noch nicht geäußert – wohlwissend um die zu erwartenden Reaktionen

    Aber offenkundig bedeutet der Veröffentlichungskanal auch (oder soll es bedeuten), dass Papst Franziskus hinter seinem Vorgänger steht. Benedikt äußert sich – als eigentlich zurückgezogen leben wollender Privatier – üblicherweise über seinen Privatsekretär Georg Gänswein. An einer späteren Stelle seines Schreibens betont er: „Besonders dankbar bin ich für das Vertrauen, für die Unterstützung und für das Gebet, das mir Papst Franziskus persönlich ausgedrückt hat.“ Öffentlich hat sich Franziskus bislang nicht geäußert – wohlwissend, dass eine Stellungnahme zum Futter für Kritik werden würde, entweder für das katholisch-konservative Lager, für das Benedikt eine Identifikationsfigur ist, oder für das eher progressive Lager.

    Zu Beginn erklärt Benedikt, er sei „nur knapp fünf Jahre Erzbischof von München und Freising“ gewesen – was sich als Herabspielen seiner Verantwortung lesen lassen könnte. Und Verantwortung kommt einem Bischof immer zu – in seiner Diözese trägt er die "Letztverantwortung". Das Missbrauchsgutachten jedenfalls untersucht lediglich diesen Zeitraum, Ratzingers Umgang mit Missbrauchsfällen vor allem als einflussreicher Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan wäre ein noch interessanterer Forschungsgegenstand.

    Papst Franziskus spricht bei seiner wöchentlichen Generalaudienz mit Georg Gänswein, Kurienerzbischof und Präfekt des Päpstlichen Hauses.
    Papst Franziskus spricht bei seiner wöchentlichen Generalaudienz mit Georg Gänswein, Kurienerzbischof und Präfekt des Päpstlichen Hauses. Foto: Alessandra Tarantino, AP/dpa

    Dann wendet sich Benedikt nicht etwa Missbrauchsopfern zu, denen sein Schreiben in erster Linie hätte gelten müssen. Er hatte sie vor allem mit der von ihm unterschriebenen Stellungnahme im Missbrauchsgutachten vor den Kopf gestoßen – juristisch argumentierende 82 Seiten, in denen er wenig empathisch sich im Klein-Klein des Kirchenrechts verstrickt. In denen er angibt (beziehungsweise angeben lässt), dass ein exhibitionistischer Priester nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn aufgefallen sei. Oder: Dass einer als „anonymer Privatmann“ gehandelt habe, nicht als Priester.

    Und in denen Benedikt zwar behauptet, er habe noch ein sehr gutes Erinnerungsvermögen – ihn aber an entscheidenden Stellen die Erinnerung schlicht verlässt. Zudem wird in ihnen erklärt: An was er sich nicht erinnern könne, könne auch nicht gewesen sein. Das ist eine bemerkenswerte Auffassung.

    Zunächst dankt er "der kleinen Gruppe von Freunden"

    Benedikt wendet sich zunächst also nicht an die Opfer, er wendet sich an seine Unterstützer – und an seine Anwälte und Berater, die die Stellungnahme erstellt hatten, und ihm eine Falschaussage einbrockten, die er richtigstellen lassen musste: „Zunächst möchte ich ein Wort herzlichen Dankes sagen. Ich habe in diesen Tagen der Gewissenserforschung und Reflexion so viel Ermutigung, so viel Freundschaft und so viele Zeichen des Vertrauens erfahren dürfen, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können. Besonders danken möchte ich der kleinen Gruppe von Freunden, die selbstlos für mich meine 82-seitige Stellungnahme für die Kanzlei verfaßt hat, die ich allein nicht hätte schreiben können.“

    Es gibt andere Beispiele – es ist regelrecht ein Muster, könnte man sagen – dafür, wie Ratzinger Verantwortung auslagerte und eben nicht persönlich übernahm. Nicht anders ist es hier. Die drei Mal in der Stellungnahme für das Münchner Missbrauchsgutachten getätigte Falschaussage, dass er 1980 bei einer entscheidenden Ordinariatssitzung nicht dabei war, bei der es um den pädophilen Priester H. ging? „Bei der Riesenarbeit jener Tage – der Erarbeitung der Stellungnahme – ist ein Versehen erfolgt (…). Dieser Fehler, der bedauerlicherweise geschehen ist, war nicht beabsichtigt und ist, so hoffe ich, auch entschuldbar.“ Benedikts Name steht unter der Stellungnahme, aber: Ein Berater war's. Noch dazu einer, der sich bestens mit dem Fall Peter H. ausgekannt haben soll.

    Er schreibt: "Mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen“

    Daraufhin geht Benedikt in seinem Schreiben in die Offensive: „Daß das Versehen ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen.“ Nun ist eine (korrigierte) Falschaussage tatsächlich keine absichtliche Lüge – das ist Benedikt unbedingt zuzugestehen. Von Demut oder dem Willen zur Versöhnung künden diese Zeilen jedoch nicht. Im Gegenteil: Sie befördern de facto das Narrativ seiner eifrigen Verteidiger, dass hier eine zerstörerische Kampagne gegen den früheren Papst und dessen Theologie im Gange sei.

    An diesem Mittwoch spricht beispielsweise der Erzbischof von Prag, Kardinal Dominik Duka, in der katholisch-konservativen Die Tagespost von einer „weltweiten Medienkampagne“ gegen Benedikt. Weiter schreibt die Zeitung: Zum „Agieren“ des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, der den emeritierten Papst öffentlich aufgefordert hatte, sich zu entschuldigen, meine Kardinal Duka, „der Konferenzvorsitzende solle ‚sich überlegen, ob er nach den Zehn Geboten und im Geiste der Gerechtigkeit, der christlichen Nächstenliebe und der Menschlichkeit gehandelt hat‘.“ Es ist die Rhetorik eines heftigen innerkirchlichen Richtungskampfs zwischen Bewahrern und Reformern. Inklusive dem gegenseitigen Absprechen des Katholisch-Seins.

    Abermals geht es in Benedikts Schreiben danach um ihn selbst: „Um so bewegender sind für mich die vielfältigen Stimmen des Vertrauens, herzlichen Zeugnisse und berührenden Briefe der Ermutigung, die mich von sehr vielen Menschen erreicht haben.“ Immer noch kein Wort zu seiner persönlichen Verantwortung, immer noch kein Wort an Missbrauchsopfer. Es folgt erst darauf, eingeleitet von einem etwas irritierend klingenden Satz: „Dem Wort des Dankes muß aber nun auch ein Wort des Bekenntnisses folgen.“ Muss?

    Interessant, wie Benedikt zwischen den Wörtern "ich" und "wir" hin und her wechselt

    Es ist interessant, wann und wie Benedikt die Wörter „ich“ oder „wir“ verwendet – oder das Passiv. Er schreibt: „Wir bitten den lebendigen Gott vor der Öffentlichkeit um Vergebung für unsere Schuld, ja, für unsere große und übergroße Schuld.“ – Schließlich wird er doch noch persönlicher: „Mir ist klar, daß das Wort ‚übergroß‘ nicht jeden Tag, jeden einzelnen in gleicher Weise meint. Aber es fragt mich jeden Tag an, ob ich nicht ebenfalls heute von übergroßer Schuld sprechen muß. Und es sagt mir tröstend, wie groß auch immer meine Schuld heute ist, der Herr vergibt mir, wenn ich mich ehrlich von ihm durchschauen lasse und so wirklich zur Änderung meines Selbst bereit bin.“

    Was aber ist Benedikts Schuld? „Bei all meinen Begegnungen vor allem auf mehreren Apostolischen Reisen mit von Priestern sexuell mißbrauchten Menschen habe ich den Folgen der übergroßen Schuld ins Auge gesehen und verstehen gelernt, daß wir selbst in diese übergroße Schuld hineingezogen werden, wenn wir sie übersehen wollen oder sie nicht mit der nötigen Entschiedenheit und Verantwortung angehen, wie dies zu oft geschehen ist und geschieht.“ Wieder wechselt Benedikt vom „Ich“ zum „Wir“. Und spricht davon, man werde in Schuld hineingezogen. Passiv, nicht aktiv.

    "Hineingezogen": Diese Denkweise erinnert an einen Text von ihm aus dem Jahr 2019. Indem gab er unter anderem den 68ern und reformorientierten Theologen eine Mitschuld am Missbrauchsskandal in Reihen der katholischen Kirche – mithin dem „Zeitgeist“. Schuld waren die anderen.

    Seine persönliche Schuld und Verantwortung, die konkret zu benennen wäre? Er bleibt Antworten schuldig. Stattdessen beteuert Benedikt im Folgenden: „Wie bei diesen Begegnungen kann ich nur noch einmal meine tiefe Scham, meinen großen Schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Mißbrauchs zum Ausdruck bringen.“ Es ist eine „Betroffenheitsrhetorik“, die Opfer allzu oft von Kirchenmännern gehört haben und die sich abgenutzt hat – ganz gleich, wie aufrichtig sie im jeweiligen Fall gemeint ist. Gleichwohl: Dass Benedikt es mit diesen Sätzen ernst meint, sollte man ihm nicht absprechen.

    An dieser Stelle zeigt Benedikt Einsicht und Mitgefühl

    Zumal, und das wurde öffentlich in Kommentaren auch herausgestellt, Benedikt durchaus Einsicht und Mitgefühl zeigt: „Ich habe in der katholischen Kirche große Verantwortung getragen. Umso größer ist mein Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind. Jeder einzelne Fall eines sexuellen Übergriffs ist furchtbar und nicht wieder gut zu machen. Die Opfer von sexuellem Missbrauch haben mein tiefes Mitgefühl und ich bedauere jeden einzelnen Fall.“ Nur: Konkret wird er auch hier nicht.

    Vor allem: In den nächsten beiden Passagen geht es erneut um ihn: „So kann ich nur den Herrn anflehen und alle Engel und Heiligen und Euch, liebe Schwestern und Brüder, bitten, für mich zu beten bei Gott unserem Herrn.“ Er werde ja nun bald „vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen“, schreibt Benedikt. „Auch wenn ich beim Rückblick auf mein langes Leben viel Grund zum Erschrecken und zur Angst habe, so bin ich doch frohen Mutes, weil ich fest darauf vertraue, daß der Herr nicht nur der gerechte

    Und wieder: Kein Wort zu den Missbrauchsbetroffen. Ist der Herr auch ihr „Freund und Bruder“? Manche von ihnen zweifeln daran sehr – was überaus verständlich ist, nach dem, was sie erleben und erleiden mussten.

    So interpretiert sein Berater Benedikts Stellungnahme

    Über den Widerspruch, dass Benedikt „Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind“, empfindet, aber für seine Zeit als Münchner Erzbischof jegliches Fehlverhalten von sich weisen lässt, sagte sein Berater, der Anwalt Carsten Brennecke von der Kölner Kanzlei H.cker, dem Spiegel: Schuld bedeute „persönliche Vorwerfbarkeit“. Und die könne es ohne Vorsatz, also ohne Kenntnis von den Missbrauchstaten nicht geben.

    „Ich interpretiere Benedikts Schreiben aber so, dass die Institution Kirche schwere Schuld auf sich geladen hat. In seinem Brief positioniert er sich klar: Er drückt seine tiefe Scham, seinen großen Schmerz und seine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Missbrauchs aus. Er spricht von organisationaler Verantwortung. Und ich sehe auch ein tiefes Bedauern darüber, dass so etwas unter ihm möglich war“, sagte Brennecke.

    Zum Schluss von Benedikts Schreiben stehen die Worte: „Liebe Freunde, in diesem Sinn segne ich Euch alle. Benedikt XVI.“ Ein weiterer Gruß an seine „Freunde“, nicht an seine Kritiker, nicht an Missbrauchsbetroffene – und der Name „Benedikt XVI.“ Ohne den Zusatz „emeritiert“. Gleich so, als ob Ratzinger noch immer Papst wäre.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden