Annette Kurschus gibt auf - erhobenen Hauptes. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Chefin der westfälischen Landeskirche tritt mit sofortiger Wirkung von beiden Ämtern zurück. In einer persönlichen Erklärung in Bielefeld sagte die Theologin, die Lage habe sich so zugespitzt, dass es nur eine Konsequenz geben könne, um Schaden von der Kirche abzuwenden: "Ich trete von beiden kirchlichen Leitungsämtern zurück." Zugleich betonte sie: "In der Sache bin ich mit mir im Reinen."
Gegen Kurschus waren Vorwürfe erhoben worden, sie habe schon vor vielen Jahren vom Verdacht eines sexuell übergriffigen Verhaltens bei einem damaligen Kirchenmitarbeiter im Kirchenkreis Siegen gewusst. Ob es sich um ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten handelt, ist noch ungeklärt.
Wie begründet Kurschus ihren radikalen Schritt?
In der Öffentlichkeit werde ein Konflikt zwischen Betroffenen von sexualisierter Gewalt und ihr als Amtsträgerin geschürt, beklagte die Geistliche. Die Erfolge, die die Kirche bei der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt gemeinsam mit Betroffenen in vielen Jahren errungen hätte, dürften nicht gefährdet werden. Sie stehe für die Menschen, die sich hier einsetzten. "Ihnen will ich nicht mit Schlagzeilen durch einen Verbleib im Amt schaden." Die 60-Jährige trat blass ans Mikrofon, kämpfte kurze Momente mit den Tränen, ihre Stimme wurde stellenweise brüchig.
Das öffentliche Vertrauen in ihre Person habe Schaden genommen, schilderte sie. Das ziehe in absurder Weise die Aufmerksamkeit von den Betroffenen ab und dem Unrecht, das ihnen angetan worden sei. Die Entwicklung würde es ihr künftig unmöglich machen, zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen Stellung zu nehmen, wie es ihre Ämter aber verlangten - und auch sie von sich selbst. Folglich trete sie "deshalb - und nur deshalb" zurück.
Was hat es mit dem Verdacht gegen den früheren Kirchenmann auf sich?
Den Fall hatte die Siegener Zeitung ins Rollen gebracht. Sie hatte sich auf die Aussagen zweier Männer berufen, die Kurschus in den 1990er Jahren "im Detail über die Missbrauchsvorwürfe informiert haben wollen". Die Staatsanwaltschaft ermittelt in mehreren Verdachtsfällen gegen einen früheren Kirchenmitarbeiter, der in den 1990er Jahren wie Kurschus im Kirchenkreis Siegen tätig war. Die Vorwürfe in der Causa Kurschus drehen sich im Kern um die Frage, über was genau sie wann genau informiert wurde.
Kurschus sagte, sie habe zu dem Mann nie in einem Dienstverhältnis gestanden, sei mit dessen Familie lange befreundet gewesen. Zugleich räumte sie ein: "Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden." Sie habe damals anderes "wahrgenommen", etwa die geschilderte eheliche Untreue des Beschuldigten. Sie habe nie versucht, "ihre eigene Haut zu retten", zu vertuschen oder gar einen Beschuldigten zu decken.
Laut Ermittlungsbehörde in Siegen gibt es bislang "keinerlei Hinweise, dass es zu körperlicher Gewalt oder einer Drohung gegen Leib und Leben gegen eine Person" gekommen sei. Mehrere Menschen hätten unterschiedliche Vorwürfe erhoben, Details wurden nicht benannt. Man habe bisher keine Kenntnisse, das damals Minderjährige mutmaßlich betroffen gewesen sein könnten. Kurschus stellte klar, sie habe Persönlichkeitsrechte schützen wollen, das habe nichts mit mangelnder Transparenz zu tun. Der Mann ist inzwischen in Rente.
Der Druck hatte stark zugenommen
Der Druck auf Kurschus auch innerhalb der Kirche war in den vergangenen Tagen rapide gewachsen. Als höchste Repräsentantin der evangelischen Kirche, als Gesicht der 19,2 Millionen evangelischen Christinnen und Christen hatte Kurschus unter besonderer und zunehmender Erklärungsnot gestanden.
Das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD - besetzt mit Betroffenen und Kirchenvertretern - war auf Abstand gegangen. Sprecher Detlev Zander hatte Kurschus öffentlich als nicht mehr im Amt haltbar bezeichnet. Auch die Präses der Synode, Anna-Nicole Heinrich, distanzierte sich.
Kurschus hatte ihr Amt als EKD-Vorsitzende im November 2021 aufgenommen und dabei die Bekämpfung und Aufklärung sexualisierter Gewalt in der Kirche zur "Chefinnen-Sache" erklärt. Ausgerechnet in diesem Bereich habe das Vertrauen in sie nun gelitten, bedauerte Kurschus. Sie werde sich hier aber auch weiterhin einsetzen.
Warum der Zeitdruck?
Sie habe beide Ämter mit Herzblut und Leidenschaft ausgeübt, sagte die Geistliche. Sie war 2012 Präses - Landesbischöfin - der westfälischen Landeskirche geworden. Bereits Ende dieser Woche findet die Landessynode der westfälischen Kirche statt, die normalerweise die Präses leitet. Auch hier habe sie schnell Klarheit für die anstehenden Planungen schaffen wollen, sagte Kurschus. Im Januar soll zudem die von der EKD in Auftrag gegebene unabhängige Studie zu sexualisierter Gewalt in den Landeskirchen vorgelegt werden. Ab sofort übernimmt die stellvertretende Ratsvorsitzende, die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, kommissarisch das Amt des EKD-Ratsvorsitzes.
Für Kurschus und ihr Kirchenumfeld ein schweres Los
Viele Menschen - vor allem aus dem westfälischen Kreis - stehen hinter Kurschus. Gemeindemitglieder, Mitarbeitende, Mitglieder der Kirchenleitung hätten sie gebeten zu bleiben, sagte Kurschus. Und: "Dieser Schritt fällt mir nicht leicht." Die Dynamik sei aber nicht mehr zu stoppen, machte sie vor Medienvertretern deutlich.
Kurschus brauchte knapp neun Minuten, um ihren Schlussstrich zu erläutern und endete so: "Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen, und so gehe ich sehr traurig, aber getrost und aufrecht." Dann eilte sie aus dem Saal - den längeren Applaus hörte Kurschus wohl nicht mehr. (Von Yuriko Wahl-Immel und Christina Sticht, dpa)