Um ihr Projekt, die Kindergrundsicherung, durchzusetzen, hat Familienministerin Lisa Paus gerade erst einen Eklat im Kabinett herbeigeführt. Die Grünen-Politikerin verhinderte das Wachstumschancengesetz von Finanzminister Christian Lindner, um ihr eigenes Vorhaben zu erzwingen. Paus und die Grünen kämpfen schon lange für die Kindergrundsicherung, die alle sozial- und familienpolitischen Leistungen bündelt. Der Streit zwischen Paus und Lindner soll Ende des Monats bei einer Kabinettsklausur möglichst beigelegt werden – die Familienministerin kann dann mit guten Argumenten für ihr Projekt werben. Ein von der Diakonie Deutschland beauftragtes Gutachten kommt zu dem Schluss: Wer jetzt bei den Kindern spart, zahlt später drauf.
Die vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erstellte Expertise zeichnet ein erschreckendes Bild vom Ausmaß der Kinderarmut hierzulande. Mittlerweile sei jedes fünfte Kind von Einkommensarmut betroffen. Im EU-Vergleich liegt Deutschland damit im hinteren Drittel. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie, ein langjähriger Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung im Land, fasst es so zusammen: „Es ist ein Skandal, dass mehr als drei Millionen Kinder in Deutschland in relativer Armut leben.“
Gezielte Transfers wären eine Lösung
Über den jüngsten Koalitionskrach und den monatelangen Streit um die Kindergrundsicherung kann Lilie deshalb auch nur den Kopf schütteln. „Politiker unterscheiden viel zu oft in Schwarz und Weiß“, sagte er bei einer Pressekonferenz in Berlin. Die gesellschaftlichen Strukturen seien aber viel komplexer.
Auf diese Komplexität gehen die Vorschläge des Gutachtens ein. Die von Paus zunächst genannte Summe von zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung – inzwischen wäre die Ministerin für den Anfang mit sieben Milliarden zufrieden – halten die Experten für zu gering. „Notwendig wären mindestens 20 Milliarden Euro“, erklärte Lilie. Sollten Christian Lindner und seine FDP an dem Argument festhalten, das sei zu viel, liefert das Gutachten ein Gegenargument: Die 20 Milliarden wären nur „ein Bruchteil der Summe, die Staat und Steuerzahler heute schon schultern müssen, weil wir Kinderarmut nicht energischer bekämpfen, sondern lieber die enormen Folgekosten in Kauf nehmen“.
Armutsbetroffene Kinder haben ein höheres Risiko, gesundheitliche Probleme zu bekommen und arbeitsunfähig zu werden als Kinder aus ökonomisch starken Familien. „Allein die direkten und indirekten Kosten im Zusammenhang mit Adipositas, deren Risiko mit Kinderarmut steigt, lagen 2016 bei jährlich mehr als 60 Milliarden Euro“, hat das DIW untersucht. Damit sorge Kinderarmut langfristig für höhere öffentliche Ausgaben für Gesundheitsversorgung sowie höhere Auszahlungen in den Sozialversicherungssystemen. Der oft schlechtere Zugang zu Bildungsangeboten für armutsbetroffene Kinder führe zudem zu niedrigeren Bildungsabschlüssen und begrenzten berufliche Perspektiven. Das wiederum erhöhe das Risiko von Arbeitslosigkeit und bedeute langfristig gesellschaftliche Kosten in Form von ausbleibenden Steuer- und Sozialabgaben und zusätzliche Transferleistungen. „Diese Kosten belaufen sich allein für Personen eines Jahrgangs mit unzureichender Bildung auf 1,5 Milliarden Euro jährlich“, heißt es weiter.
Scholz ist zuversichtlich
Was an Finanzmitteln derzeit da ist, wird dem DIW-Gutachten zufolge außerdem ineffektiv verteilt. Die Experten schlagen deshalb unter anderem „kinderbezogene Transferleistungen“ vor. So könnte „durch zusätzliche Transfers von 100 Euro der Anteil armutsbetroffener Haushalte am stärksten reduziert werden“. Besonders Alleinerziehendenhaushalte (meistens Frauen) sowie Paare mit mindestens drei Kindern würden davon profitieren. Das von der FDP vorgeschlagene Kinderchancengeld hingegen wäre demnach „im Wesentlichen eine Verwaltungsvereinfachung“, die Familien mit mittlerem und niedrigem Einkommen zugutekäme.