Die Österreicher kennen diese Szene sehr gut, in den vergangenen Jahren lief sie so oft über die Bildschirme, dass sie sich fest eingeprägt hat: der Eingang zur Hofburg, dem Sitz des Bundespräsidenten, gleich vis-a-vis des Kanzleramtes am Wiener Ballhausplatz. An diesem Montagvormittag rollt eine schwarze Limousine bis direkt vor den Hofburg-Eingang, vor der Absperrung, die zahlreiche Zuseher und Journalisten fernhält. Nicht weit entfernt haben sich ein paar hundert Demonstranten eingefunden, „Nazis raus!“ rufen sie, als das Auto anhält.
Aus dem Auto steigt ein Mann, der die stuckverzierten Räumlichkeiten des Bundespräsidenten gut kennt, sie aber nicht in allzu guter Erinnerung hat: Hier war er im Dezember 2018 als Innenminister angelobt worden, hier wurde er im Mai 2019 als Innenminister entlassen, auf Vorschlag des damaligen Kanzlers Sebastian Kurz, der ihn und seine Partei, damals geführt von Heinz-Christian Strache, in die Regierung geholt hatte. An diesem Montag aber kommt Herbert Kickl, 56, Chef der extrem rechten FPÖ, in einer gänzlich anderen Stimmung zum Staatsoberhaupt. Nun ist er es, der das Moment hat.
Van der Bellen: „Ich habe mir diesen Schritt nicht leicht gemacht“
Nach gut einer Stunde kommt Kickl wieder aus der Hofburg, wirft einer Reporterin einen kurzen Satz zu, steigt in sein Auto und entschwindet. Wieder eine Stunde später: Die berühmte rote Tapetentüre zum Büro des Präsidenten öffnet sich, Alexander Van der Bellen tritt vor die Kameras. „Der Respekt vor dem Wählervotum gebietet es, dass der Bundespräsident die Mehrheit achtet, die sich im Nationalrat findet, oder eben nicht findet“, sagt Van der Bellen. „Das ist der beruhigend klare Kern unserer Demokratie, festgelegt in der Bundesverfassung.“ Herbert Kickl, sagt der Präsident, traue sich zu, tragfähige Lösungen für die zahlreichen Probleme der Republik zu finden. Österreich sei in einer anhaltenden Rezession, die Arbeitslosigkeit steige und der Haushalt müsse saniert werden, nicht zu vergessen die geopolitische Bedrohungslage durch den Angriffskrieg Russlands. Man habe auch „länger über die Freiheit der Medien in Österreich gesprochen“. Und dann sagt Van der Bellen genau das, was er eigentlich nie vor hatte, zu sagen: „Ich habe ihn beauftragt, dass er Gespräche mit der ÖVP zur Bildung einer Bundesregierung aufnimmt.“ Kickl wolle diese Verantwortung, sagt der Präsident, er habe ihn danach auch explizit gefragt. Und: „Ich habe mir diesen Schritt nicht leicht gemacht.“
Für Herbert Kickl sind es, so scheint es, die letzten Meter eines Weges an die Macht, der direkt nach der „Ibiza“-Affäre 2019 begonnen hatte. Noch stehen zwischen ihm und dem Bundeskanzleramt zahlreiche Hürden. Die Verhandlungen mit der ÖVP, die in den vergangenen Tagen in einer in Rekordzeit hingelegten 180-Grad-Wende jeden Widerstand gegen den FPÖ-Chef aufgegeben hatte, werden sich ziehen. Noch bleibt der FPÖ-Chef wortkarg. Er weiß, dass es in den kommenden Tagen gilt, keinesfalls das nun erreichte Momentum aufs Spiel zu setzen. Dass er sich Fehler leisten wird, gilt vielen Beobachtern in Wien als unwahrscheinlich. Dafür hat der gebürtige Kärntner einfach zu viel Erfahrung.
Zwei traumatische Erlebnisse hatte Kickl
Herbert Kickl erlebte in den Nullerjahren als Redenschreiber und Spindoktor des damaligen FPÖ-Chefs Jörg Haider, wie dieser mit einer kleinen Gruppe an FPÖ-Politikern der eigenen Partei den Rücken kehrte - Kickl empfand das als Verrat an den eigenen Werten. Er blieb in der FPÖ, sorgte für das ideologische Futter und Wahlslogans für Haiders Nachfolger Heinz-Christian Strache. Dessen Rücktritt nach „Ibiza“ und sein Ende als Innenminister durch Sebastian Kurz war das zweite traumatische Erlebnis Kickls mit der ÖVP. Das geheim aufgenommene Video auf Ibiza, in dem Strache zu sehen war, wie er mit einer vermeintlichen russischen Oligarchennichte über Staatseigentum verhandelte, sprengt bei der Veröffentlichung Kurz’ Regierung in die Luft. Nach Straches Rücktritt wollte Kurz eigentlich mit der FPÖ weiterregieren - nur eben ohne Herbert Kickl als Innenminister.
Endlich selbst an der Spitze seiner Partei, ließ Kickl sämtliche – zumindest rhetorischen – Hemmungen der völkisch-nationalistischen Partei fallen: Bisher geleugnete Verbindungen zur neofaschistischen „Identitären Bewegung“ wurden jetzt offen begrüßt, „Unvereinbarkeiten“ zwischen der Gruppe und der FPÖ waren rasch Geschichte, Kickl suchte geradezu die Nähe zum organisierten Rechtsextremismus. Der passionierte Bergsteiger und Läufer stellte sich hinter die in Österreich besonders starke Coronaleugner-Szene und marschierte in den Pandemie-Jahren mit tausenden Demonstranten auf der Wiener Ringstraße auf.
Kickl sprach offen aus, was auf Österreich zukommen würde, wenn er und die FPÖ es in die Regierung schaffen würden: Der FPÖ-Chef redete in Bierzelten von „Fahndungslisten“, die er schon parat habe und auf denen sich auch ÖVP-Politiker finden würden. Kickl bedient sich regelmäßig im NS-Jargon, etwa, wenn er von sich selbst als „Volkskanzler“ spricht. Journalisten, die für ihn nur für „Systemmedien“ arbeiten, drohte er offen: diesen wolle er „Benehmen“ beibringen. Wer um die enge Zusammenarbeit der Freiheitlichen mit Hetz- und Propagandaplattformen im gesamten deutschsprachigen Raum weiß, weiß derartige Ankündigungen auch zu deuten. Und nicht nur außenpolitisch will Kickl es wie sein großes Idol, Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, machen – inklusive eines autoritären Umbaus des Staatsapparates. Wie andere FPÖ-Politiker und sein Vorgänger Strache stellt sich auch Kickl offensiv auf die Seite Russlands, er will die Sanktionen gegen den Kriegsherren Wladimir Putin aufheben oder zumindest aufweichen. Im EU-Parlament bilden die österreichischen Rechtsextremen eine enge Allianz mit ihrer deutschen Schwesterpartei, der AfD – diese freut sich angesichts der herannahenden Macht für ihren österreichischen Gesinnungsgenossen bereits über den zu erwartenden Anschub im Wahlkampf.
Kanzler Karl Nehammer trat zurück
Der Pro-russische Kurs und die Anti-EU-Haltung der extremen Rechten sind für die ÖVP wohl das größte Problem in den Verhandlungen, das es zu lösen gilt. Wie schwer das sein wird, zeigte am Montag eine erneute ÖVP-Personalie: Einem Kanzler Kickl stehe er nicht als Minister zur Verfügung, sagte Alexander Schallenberg, amtierender Außenminister und Kurzzeit-Kanzler, der Tageszeitung ‚Die Presse‘. Wie viele ÖVP-Leute es Schallenberg nach gleich tun werden, bleibt offen. Er sei ein „Sicherheitsrisiko“, mit ihm sei „kein Staat zu machen“, er sei der „Zerstörer“, habe als damaliger Innenminister den österreichischen Verfassungsschutz „zerschlagen“ – so sprachen in den vergangenen Monaten führende ÖVP-Politiker über Kickl. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Das machte am Wochenende, nach der Rücktritts-Ankündigung von Kanzler Karl Nehammer, dessen designierter Nachfolger Christian Stocker klar. Immerhin hätten sich im Wahlkampf alle Parteien so manche Grauslichkeit ausgerichtet, auch Kickl sei ja „nicht zimperlich gewesen“, und der SPÖ-Chef Andreas Babler schon gar nicht, so der Tenor führender ÖVP-Politiker. Man habe lange genug versucht, eine Regierung ohne die FPÖ zu bilden – und jetzt müsse man eben mit Kickl reden.
Verantwortlich für den raschen Schwenk in der ÖVP sind vor allem Wirtschaftstreibende und Industrielle – sie waren es dem Vernehmen nach, die nach dem Verhandlungs-Ausstieg der liberalen NEOS am Freitagmorgen dem mit dem Rücken zur Wand stehenden Karl Nehammer klar gemacht hatten, was nun zu geschehen habe. Dass man lieber mit Kickl und als Juniorpartner der extremen Rechten regieren will als sich mit Liberalen und Sozialdemokraten mühsam auf einen Kompromiss zu einigen, daraus hatten Vertreter von Wirtschaftsbund und auch der Industriellenvereinigung schon direkt nach der Nationalratswahl kein Hehl gemacht. Schließlich hatte sich Kickl wirtschaftspolitisch vor den Wahlen im FPÖ-Programm wohl nicht ohne Hintergedanken stark an der ÖVP orientiert. Und so wurde Nehammer kurzerhand das Pouvoir entzogen – und binnen nur weniger Stunden stand für Herbert Kickl die Tür zum Kanzleramt sperrangelweit offen. Immerhin: Erfahrung mit einer Zusammenarbeit hat die Noch-Kanzlerpartei bereits genug. Auf Landesebene kooperieren die Konservativen in fünf Bundesländern mit Kickls Partei – von Vorarlberg über Salzburg, Ober- und Niederösterreich bis in die Steiermark, dort stellt die FPÖ mit Mario Kunasek erstmals selbst den Landeshauptmann. Das ist politischer Rückenwind, den der mögliche kommende Kanzler gut gebrauchen kann.
Der Spielraum für die ÖVP ist so eng wie nie zuvor
Kickl hat damit die Trümpfe in der Hand. Auch eine mögliche „Präambel“, die der Bundespräsident vor ein FPÖ-ÖVP-Koalitionsabkommen setzten lassen könnte, um internationale Aufregung klein zu halten, könnte Kickl ablehnen, ohne sein politisches Momentum und seine Chance auf den Kanzlersessel zu beschneiden. Der Spielraum für die ÖVP ist, ähnlich wie der des Präsidenten, so eng wie nie zuvor. De facto ist er nicht vorhanden: Sollte die ÖVP die Verhandlungen mit der FPÖ erneut platzen lassen, wären Neuwahlen unausweichlich – und die will in der ÖVP niemand. Bis auf eine kleine Gruppe, die nach wie vor ein Comeback des gescheiterten Sebastian Kurz herbeisehnt – die Personalrochaden an der Parteispitze zeigen aber deutlich, dass Kurz‘ Anhänger nicht das Heft in der Hand haben. Kickls Weg zur Macht scheint vorgezeichnet – und so dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich für den FPÖ-Chef die berühmte rote Tapetentüre in der Hofburg erneut öffnet.
Man kann Herbert Kickl nur aufmuntern durch diese Tür zu gehen und Gutes zu tun, das seine Vorgänger offensichtlich nicht schafften.
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