„Wir haben es geschafft“, rief der frisch gewählte britische Premierminister Keir Starmer Anfang Juli seinen jubelnden Anhängern vor der Downing Street Nummer 10 zu. Der 62-Jährige hatte nach seinem Wahlsieg nicht weniger als eine „Ära der nationalen Erneuerung“ angekündigt, in der seine Labour-Partei „mit dem Wiederaufbau unseres Landes beginnen“ werde. Er wollte nicht nur das marode britische Gesundheitssystem NHS auf Vordermann bringen, bessere Arbeitsbedingungen und niedrigere Energiekosten erwirken. Starmers Anspruch hatte auch eine moralische Komponente. Seine Partei versprach, gegen Korruption und dubiose Spenden vorzugehen. Aufgeräumt werden sollte in Whitehall, wie die Umgebung der Downing Street und die dort befindlichen Ministerien und Behörden genannt werden, Filz und Korruption beseitigt. Starmer hatte die Messlatte hochgelegt.
Experten warnten schon damals, dass es nicht ausreichen würde, Reformen anzustoßen und Gesetze zu verabschieden. In der Öffentlichkeit sei der Eindruck entstanden, dass Politiker nur auf ihr eigenes Wohl bedacht seien und die Sorgen der Bevölkerung nicht verstünden, warnten sie. 100 Tage nach Starmers Amtsantritt wird klar: Gelungen ist dies in der Wahrnehmung vieler Briten nicht.
Gesellschaft wirft Labour Doppelmoral vor
Erst vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass der Premier in den vergangenen Jahren Geschenke im Wert von mehreren zehntausend Pfund angenommen hatte, darunter Designer-Brillen, teure Kleider für seine Frau und einen Platz in der Loge seines Lieblingsvereins FC Arsenal. Obwohl Ex-Premier Boris Johnson allein für Renovierungsarbeiten in der Downing Street im Jahr 2020 mehr Geld ausgegeben und diese überwiegend durch Spenden finanziert hatte, sorgten die Enthüllungen für einen handfesten Skandal. Ein Vergehen gegen den Kodex für Regierungsmitglieder liegt nicht vor, weil Starmer die Spenden deklariert hat. Allerdings wurde ihm Doppelmoral vorgeworfen. „Labour muss höhere moralische Standards erfüllen“, sagt Sophie Stowers von der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“. Die Folgen sind unmittelbar abzulesen: Knapp 100 Tage nach Starmers Amtsantritt liegen die britischen Sozialdemokraten in Umfragen mit 29 Prozent nur noch einen Prozentpunkt vor den Konservativen, bei der Wahl im Juli waren es noch zehn Prozent.
Doch nicht nur der Vertrauensverlust macht der Partei zu schaffen. „Im Wahlkampf hatte Labour Wandel versprochen und damit eine Botschaft“, sagt Patrick Diamond, Professor an der Queen Mary University of London. Doch jetzt fehle eine klare Richtung. Ohne den Haushalt, der erst Ende Oktober veröffentlicht wird, und die darin enthaltenen Steuer- und Ausgabenpläne fehle den Menschen eine Vorstellung von dem, was geplant sei. So sei ein regelrechtes Vakuum für schlechte Nachrichten entstanden. Teure Geschenke oder die geplante Kürzung des Heizkostenzuschusses für Senioren hätten auf diese Weise viel Aufmerksamkeit erregt. „Für die Partei ist das ärgerlich, denn zu behaupten, die Regierung habe nichts erreicht, ist nicht richtig”, meint Diamond.
Annäherung zwischen Großbritannien und der EU
So hätten sich etwa die Beziehungen und der Ton zwischen Großbritannien und der EU unter Labour deutlich verbessert. Das Verhältnis ist offener und freundlicher geworden, wie das Treffen zwischen Starmer und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vergangene Woche in Brüssel gezeigt hat. Da Labour aber - wie schon die Tories - weiterhin einen Beitritt zur Zollunion und zum Binnenmarkt ausschließt, fragt man sich in EU-Kreisen nach wie vor, wohin die Reise geht. Statt großer Schritte sind wohl eher kleine Anpassungen und informelle Absprachen geplant.
Umso mehr habe die Partei innenpolitisch vor, sagt Diamond. So plane Labour den Bau von 1,5 Millionen Wohnungen. Zudem seien Investitionen in erneuerbare Energien und Reformen des Arbeitsrechts angekündigt worden. Die Vorteile dieser Initiativen seien allerdings noch längst nicht spürbar. „Die Erwartungen an die neue Regierung sind oft unrealistisch“, argumentiert er, „die Umsetzung braucht mehr Zeit.“ Auch Sophie Stowers sieht Potenzial für eine positive Entwicklung. Starmer habe sich immer schnell angepasst, Herausforderungen angenommen und weitergemacht. Für die Labour-Regierung sei es nun wichtig, die eigenen Ziele besser zu kommunizieren und in den kommenden Monaten möglichst viele Gesetze durch das Parlament zu bringen, bevor die Hinterbänkler in den eigenen Reihen begännen, Fraktionskämpfe in der Partei zu provozieren.
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