Verkehrte Welt bei den großen politischen Kräften im Land: Erbittert streitet die Union gerade, ob CSU-Chef Markus Söder oder der CDU-Vorsitzende Armin Laschet Kanzlerkandidat werden soll. Die Frage entzweit nicht nur die konservativen Schwesterparteien, der Riss geht mitten durch die CDU, die lange Jahre als braver Kanzler- oder Kanzlerinnen-Wahlverein galt.
Die Chancen für die Grünen stehen so gut wie nie
Höchste Harmonie hingegen herrscht bei den Grünen – einst als bunter Haufen von Revoluzzern bekannt, die vor allem ihre Streitlust einte. Doch von den endlosen Flügeldiskussionen zwischen gemäßigten Realos und radikaleren Fundis, die sich auch in schmerzhaften Personaldebatten entluden, ist derzeit ähnlich viel zu spüren, wie Wirkstoff in homöopathischen Kügelchen enthalten ist. Also – je nach Überzeugung – wenig bis gar nichts.
Dabei steht die Öko-Partei vor der vielleicht bedeutsamsten, folgenreichsten Personalentscheidung in ihrer Gesichte. Annalena Baerbock oder Robert Habeck? Wer tritt als Spitzenkandidat für die Bundestagswahl im Herbst an, bei der die Chancen so gut stehen, wie noch nie. In Umfragen in Schlagweite der zerstrittenen Union, weit vor der SPD, die mit Finanzminister Olaf Scholz schon seit Monaten ihren Spitzenkandidaten am Start hat.
Baerbock oder Habeck: Entscheidung ist gefallen – nur kennt sie keiner
Ausgerechnet die Antwort auf diese Frage hat die wie kaum eine andere auf Basisdemokratie und Mitbestimmung fixierte Partei den beiden möglichen Bewerber ganz allein überlassen. Alles spricht dafür, dass die 40-jährige Baerbock und der 51-jährige Habeck, die gemeinsam die Partei führen, ihre Entscheidung bereits getroffen haben.
Außer den beiden selbst, so versichern hochrangige Grüne einhellig, gibt es in der Partei niemanden, der eingeweiht ist. Und alle beteuern, dass beide das Zeug dazu haben. Selbst diejenigen, die sich irgendwann zu einem früheren Zeitpunkt vielleicht einmal in vertraulicher Runde laut gefragt haben, ob „der Robert“ mit seinen sechs Jahren Regierungserfahrung als Landwirtschafts- und Umweltminister in Schleswig- Holstein vielleicht doch die bessere Wahl sei. Oder aber darauf verwiesen, dass sich Baerbock bestens auskennt im komplizierten Räderwerk des Bundestags, dem Habeck nie angehörte.
Grüne Einigkeit, schwarzer Zwist
Bloß nicht den Nimbus der Geschlossenheit gefährden – das scheint im Moment das Einzige, was zählt bei den Grünen. Der Hickhack bei der Union ist da ein unverhofftes Geschenk, das den willkommenen Kontrast zur Ruhe in den eigenen Reihen bildet. Dieter Janecek, Sprecher für Industriepolitik und digitale Wirtschaft der Grünen-Bundestagsfraktion, sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: „Mitten in Krisenzeiten einen solchen Hahnenkampf aufzuführen, zeugt doch nur davon, wie inhaltlich entleert die Union mittlerweile ist. Die Brutalität und Selbstbezogenheit, die insbesondere den politischen Stil der CSU prägt, wirkt wie aus der Zeit gefallen.“
Janecek, Mitglied der interfraktionellen Abgeordneten-Fußballmannschaft FC Bundestag, erkennt die Steilvorlage für den Wahlkampf und lässt sie nicht ungenutzt: „Wer in unsicheren Zeiten Stabilität wünscht, findet diese bei uns Grünen. Wir werden die Frage der Kanzlerkandidatur am Montag in hoher Geschlossenheit und Harmonie entscheiden.“
Fasziniert beobachtet die Öffentlichkeit seit Monaten das Kuschel-Duett der Juristin und Völkerrechtlerin mit dem Schriftsteller und Philosophen. Wohl die Mehrzahl der Beobachter neigt zur Einschätzung, dass die Grünen als erklärtermaßen feministische Partei niemals die Chance auslassen werden, eine Frau auf Gleis Richtung Kanzleramt zu setzen. Doch in die Karten sehen, lässt sich die Doppelspitze von niemandem. Die hohe Aufmerksamkeit für den grünen Kandidaten-Poker, räumen Eingeweihte hinter vorgehaltener Hand ein, habe den durchaus nicht unwillkommenen Effekt, über einige strukturelle Probleme hinwegzutäuschen.
Zunehmend würden die Grünen als Partei der Besserverdiener in westdeutschen Großstädten und Berlin wahrgenommen. Im Osten der Republik dagegen sind die Umfragewerte deutlich schwächer. Habeck hatte einräumen müssen, wenig über die Probleme der Menschen in den neuen Ländern zu wissen. Auf einer Rundreise, die dies ändern sollte, fremdelten die Menschen dort eher mit ihm. Als er vor der Landtagswahl sinngemäß twitterte, es gehe darum, Thüringen wieder zu einem freien, demokratischen Land zu machen, trat er rein ins Fettnäpfchen. Zumal die Grünen in Erfurt mitregierten. Beleidigt zog sich Habeck aus den sozialen Medien zurück.
Das Programm ist schwere Kost für bürgerliche Wähler
Baerbock kennt den Osten besser, führt den Landesverband Brandenburg – ursprünglich stammt sie aus Niedersachsen. Fachlich gilt sie als sattelfester als Habeck. Dafür, dass das grüne Parteiprogram für die inzwischen immer bürgerlicher geprägten Grünen-Sympathisanten einige Zumutungen enthält, stehen beide. Sie planen für den wahrscheinlichen Fall einer Regierungsbeteiligung etwa eine Vermögenssteuer, die Reform der Schuldenbremse und wollen Hartz-IV durch eine sanktionsfreie Grundsicherung ersetzen. Doch von Inhalten spricht im Moment niemand bei den Grünen. Alles dreht sich um diese eine Frage: Sie oder er. Am Montag geben sie die Antwort.
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