Von der vierten Reihe ganz vorne links in dem riesigen Basketballstadion hat Regina Wallace-Jones die Bühne fest im Blick. Und nicht nur ihr strahlendes Gesicht spiegelt die Begeisterung. Die Delegierte aus Kalifornien trägt einen blauen Cowboyhut mit kleinen LED-Lämpchen an der Krempe zum Halstuch in den Farben der US-Fahne. Das ungewöhnliche Outfit habe sie ausgewählt, „um meine Begeisterung für Kamala Harris zu zeigen“, sagt sie.
Wallace-Jones kennt die demokratische Präsidentschaftskandidatin aus ihrer Heimat persönlich. Und sie weiß gar nicht, wo sie mit den Lobpreisungen anfangen soll. „Sie ist pragmatisch. Sie ist sehr aufmerksam. Sie ist fürsorglich und sehr empathisch“, schwärmt die langjährige Tech-Managerin und professionelle Spendensammlerin. Nein, über den amtierenden Präsidenten Joe Biden will sie kein schlechtes Wort sagen. Aber für die gute Laune in ihrer Partei hat sie eine ziemlich eindeutige Erklärung: „Da hat sich zuletzt ziemlich viel aufgestaut an Emotionen, das sich nun Bahn bricht.“
Plötzlich hat Kamala Harris in Umfragen den republikanischen Bewerber Donald Trump überholt
Das kann man wohl sagen. Keine zwei Monate ist es her, dass die US-Demokraten nach dem desaströsen Auftritt ihres Präsidenten im TV-Duell kollektiv in eine Depression stürzten. Es folgten quälende Wochen, während derer über das Schicksal des 81-Jährigen gehadert wurde, bis dieser vor vier Wochen die Reißleine zog und den Verzicht auf eine weitere Kandidatur bekannt gab. Eigentlich hätte dies hier in Chicago sein offizieller Nominierungsparteitag werden sollen. Fast alle 4000 Delegierten haben von der Basis das Mandat, für ihn zu stimmen. Nun ist er plötzlich weg. Und statt seiner wird in der United Arena am Donnerstagabend die derzeitige Vizepräsidentin Harris vor dem amerikanischen Fernsehpublikum ihre Bewerbungsrede fürs Weiße Haus halten.
Der fliegende Wechsel des Kandidaten keine hundert Tage vor der Wahl ist an sich schon ein aufwühlender, historisch beispielloser Vorgang. Doch noch unglaublicher ist der abrupte Stimmungswandel, der damit einhergeht. Im Juli schien das Rennen um die Präsidentschaft schon gelaufen. In sämtlichen Umfragen lagen die Demokraten weit zurück. Nun plötzlich hat Kamala Harris den republikanischen Bewerber Donald Trump überholt und wird von einer beispiellosen Euphorie hochgespült. Gerade ist der neue New Yorker herausgekommen, das renommierte Politik- und Kulturmagazin. Sein treffendes Titelbild zeigt Harris und ihren Vize-Kandidaten Tim Walz auf der Achterbahn. Während die beiden best gelaunt Richtung Himmel zu schießen scheinen, sausen Trump und sein „running mate“ J.D. Vance mit wehenden Krawatten unten fast aus der Seite heraus.
Bei den Demokraten ist ein regelrechtes Kamala-Fieber ausgebrochen. Einen ersten Eindruck davon auf der Convention bekommt man gleich am Eröffnungstag. Da tritt kurz nach 20 Uhr die 59-Jährige, die laut Programm eigentlich später zur Abschiedsrede von Biden nur im Publikum sitzen soll, überraschend ans Rednerpult. „Joe, wir danken Dir für Deine historische Führungsrolle und für Deinen lebenslangen Dienst an dieser Nation“, sagt sie. Das ist eine recht knappe Würdigung, und irgendwie will das Lachen in Harris‘ Gesicht nicht ganz zum Thema passen. Dann ruft sie noch: „Wir bewegen uns vorwärts“ in die Arena. Der Saal tobt. Wie elektrisiert springen die Zuhörer von den Sitzen auf, halten Schilder mit dem Slogan „We fight, we win“ (Wir kämpfen, wir gewinnen) hoch, und wollen mit dem Beifall gar nicht aufhören.
Auch im Fanartikel-Shop des Kongresszentrums spielen sich ungewohnte Szenen ab. Eilig hat die Partei noch Anstecker, Kappen und Pullis mit der neuen Kandidatin produzieren lassen. Sophia Nelson steht mit einem ganzen Arm voller T-Shirts vor der Kasse. „Ich habe von jedem zwei gekauft, damit ich meiner Mutter welche abgeben kann“, erläutert die Delegierte aus Florida. Knapp 300 Dollar blättert sie dafür hin.
Vor vier Jahren hat die Ex-Senatorin und frühere Generalstaatsanwältin von Kalifornien schon einmal fürs Weiße Haus kandidieren wollen
„Kamala wäre die erste Frau im Präsidentenamt“, begründet Nelson ihre Begeisterung. „Außerdem hat sie karibische Wurzeln wie ich.“ Doch da ist noch etwas Wichtigeres: „Ich war zuletzt bedrückt, weil es in der Partei so gar keine Bewegung gab“, gesteht die selbstständige PR-Unternehmerin. „Es wurde Zeit für einen Wechsel, um neue Energie zu erzeugen.“ Nun sei die ganze Partei „on fire“ – Feuer und Flamme für Kamala.
Ausgerechnet Kamala Harris! Vor vier Jahren hatte die Ex-Senatorin und frühere Generalstaatsanwältin von Kalifornien schon einmal fürs Weiße Haus kandidieren wollen. Damals brach ihre Kampagne noch vor den parteiinternen Vorwahlen in sich zusammen. Dann wählte Biden die Ex-Kollegin seines verstorbenen Lieblingssohnes Beau als Vizepräsidentin aus. Doch die 59-Jährige machte mehr durch Peinlichkeiten als durch Erfolge auf sich aufmerksam. Es stimmt: Mit der Einwanderungspolitik hatte Harris ein extrem undankbares Portfolio. Auch musste sie eine Menge sexistische und rassistische Anfeindungen ertragen. Aber unter dem Strich schaffte sie es nicht, irgendein Projekt mit ihrem Namen zu verknüpfen.
Doch die Tochter einer indischen Krebsforscherin und eines Ökonomen aus Jamaika bringt etwas mit, das die Demokraten lange schmerzlich vermisst haben: Freude und Optimismus. Außerdem ist sie eine Frau, eine Schwarze und fast 20 Jahre jünger als Joe Biden. Der Präsident muss orthopädische Schuhe tragen, Harris tritt mit coolen „Chucks“-Basketballtretern auf. Er mag den Songwriter James Taylor, der seine besten Zeiten im letzten Jahrhundert hatte, Harris lässt auf der Convention Beyoncé spielen. In kurzer Zeit ist die Politikerin zu einem Tiktok-Star und einer Art Pop-Idol geworden. Als sie am Wochenende bei einem Wahlkampfstopp in Pennsylvania in einem Laden eine Tüte Doritos kauft, bricht im Netz sofort eine Debatte los, welche Geschmacksrichtung der Tortilla-Chips die beste sei.
Viel wissen die meisten Amerikaner freilich nicht über die Kandidatin. Deshalb muss sie nun im Turbo-Tempo bekannt gemacht und vermenschlicht werden. Kreuz und quer reist sie durchs Land. Dazu gehört auch, bei der Feuerwehr einen Labrador zu streicheln. Am Dienstag verlässt sie den Parteitag eilig für eine Großkundgebung im benachbarten Wisconsin. In der Convention-Halle in Chicago werden derweil zwischendurch immer wieder kleine Filmchen mit biografischen Details gezeigt, und es treten Freundinnen oder Weggefährten von Harris auf, die einzelne Lebensabschnitte und Charakterzüge beleuchten. Dass sie einmal in den Semesterferien bei McDonald’s jobbte, soll ihre Verankerung in der Mittelschicht belegen. Als Staatsanwältin, erfahren die Delegierten, habe Harris viele Frauen vor Sexualstraftätern beschützt und sei gegen gierige Wall-Street-Firmen vorgegangen. Schließlich macht ihr am Montag der an Parkinson leidende 83-jährige Bürgerrechtler Jesse Jackson im Rollstuhl auf der Parteitagsbühne eine stumme Aufwartung. „Kamala trägt die Fackel der Bürgerrechtsbewegung weiter“, sagt dazu ein Erzähler in einem Video.
Die wählerwirksame Neuerfindung der Kamala Harris ist eine heikle Aufgabe
Ähnlich atemberaubend wird nun Harris‘ Arbeit als Vizepräsidentin hochgestuft. Viele Redner betonen, ohne sie hätte es Bidens milliardenschweres Klimapaket nie gegeben. Nüchtern betrachtet hatte Harris qua Amt lediglich das Abstimmungspatt im Senat aufgelöst. „Als Vizepräsidentin saß sie im Situation Room und stand für amerikanische Werte“, preist Ex-Außenministerin Hillary Clinton die Kandidatin an, als habe diese einen Kriegseinsatz geleitet. „Sie arbeitet unermüdlich an einem Waffenstillstand in Gaza“, behauptet die linke Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez. Tatsächlich treibt das Thema seit Wochen erkennbar Joe Biden um, und sein Außenminister Antony Blinken befindet sich im diplomatischen Dauereinsatz.
Die wählerwirksame Neuerfindung der Kamala Harris ist eine heikle Aufgabe. Einerseits baut ihre ganze Kandidatur auf dem Fundament der Biden-Regierung auf. Andererseits muss sie sich als Kandidatin dringend von dem unbeliebten Präsidenten freischwimmen. Doch sie hat kein fertiges Regierungsprogramm in der Schublade. So setzt die Harris-Kampagne stark auf Emotionen. Die inhaltliche Substanz wirkt eher dünn. Spontan hat die Kandidatin bei einem Auftritt in Las Vegas das Trump-Versprechen übernommen, Trinkgelder von Steuern zu befreien. Das dürfte nach Meinung von Experten den echten Geringverdienern nichts bringen, aber großes Missbrauchspotential eröffnen.
Am vorigen Freitag präsentierte Harris dann eilig weitere Vorschläge zur Wirtschaftspolitik: Milliardensubventionen für den Wohnungsbau, eine Anhebung des Kinderfreibetrags und ein Verbot des Preiswuchers im Lebensmittelhandel. „Care economy“ nennt sie das: eine Wirtschaft, die sich um die Menschen kümmert. Viele Ökonomen sind skeptisch. Manches könnte die Inflation noch befeuern, anderes hatte schon Biden vergeblich versucht und war am Kongress gescheitert.
Freude gegen Bitterkeit, Zukunft gegen Vergangenheit – das ist das optimistische Leitmotiv von Kamala Harris
Bei der Abschiedsrede von Biden am Montagabend wird der Kontrast zwischen den beiden Politikern noch einmal deutlich. Präzise geht der 81-Jährige noch einmal seine Regierungspolitik durch. Seine Stimme ist ernst und dröhnend. Es geht um die großen Themen: die Verteidigung der Demokratie, die Freiheit, die Verfassung. Vieles, was Biden sagt, ist beunruhigend. Alle seine Warnungen vor den Gefahren von Donald Trump sind richtig. Doch spätestens, als er wie 2020 zum „Kampf um die Seele Amerikas“ aufruft, fühlt man sich in einer deprimierenden Endlosschleife.
Die Harris-Kampagne hat derweil in der Nacht eine Lichtprojektion auf das 420 Meter hohe Trump-Hotel im Herzen Chicagos werfen lassen. „Harris-Walz: Joy and Hope“ stand da direkt über dem protzigen Namens-Schriftzug des Ex-Präsidenten. Das Netz jubelt, Trump tobt. Freude gegen Bitterkeit, Zukunft gegen Vergangenheit – das ist das optimistische Leitmotiv, mit dem Harris die Wahl im November gewinnen will.
In der United-Arena in Chicago muss die Kandidatin der Demokraten keine Überzeugungsarbeit mehr leisten. Nicht nur die Delegierte Wallace-Jones in der vierten Reihe ist euphorisch. „Sie bringt unterschiedliche Charaktere zusammen und kann das Land einen“, schwärmt die Kalifornierin. „Das brauchen wir, damit die Hoffnung den Hass überwinden kann.“
Wer einen Wahlkampf führt um den Gegner nur zu diskreditieren, ist nicht besser als er.. Kamala Harris ist keine amerikanische Präsidentin.. Was ich denke was ihren Wahlkampf verändern wird, dass ihr Mann jüdischen Glauben ist und durch den Krieg in Gaza werden viele umswitchen.. und dem in der Ukraine.. zu viele Gelder zu viele Waffen.. Die Not der Menschen in Amerika ist sehr groß.. und da heißt es nicht nur wie bei Trump sondern auch bei den Menschen.. Amerika First.. Es ist einfach gesagt der falsche Zeitpunkt für Kamala Harris..
Wäre Ihnen Trump als Präsident lieber? Scheint fast so. Dann gäbe es für Europa mehr zu jammern als mit einer Präsidentin, die zumindest normal tickt. Bei Trump bin ich mir da nicht so sicher.
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