Aiman al-Sawahiri war der Konkursverwalter von Al-Kaida. In den elf Jahren seit dem Tod von Gründer Osama bin Laden konnte Sawahiri das Terrornetzwerk zwar größtenteils zusammenhalten, seinen Niedergang aber nicht verhindern. Experten werten den US-Mordanschlag auf Sawahiri deshalb als „Totenglocke“ für den globalen Anspruch der Terrororganisation. Die Al-Kaida-Führung dürfte an Einfluss verlieren, lokale Gruppen im Nahen Osten und Afrika werden gestärkt. Gefährlich bleibt Al-Kaida trotzdem.
Sawahiri galt zwar als strategischer Kopf der Gruppe, doch ihm fehlte das Charisma von bin Laden. Er wurde seit Jahren von den USA gejagt und wagte sich deshalb kaum aus der Deckung. Dass es für den 71-Jährigen vor allem ums eigene Überleben ging, war ein Erfolg der westlichen Anti-Terror-Strategie. Sicherheitskräfte der USA und anderer Länder töteten in den vergangenen Jahren mehrere hochrangige Al-Kaida-Funktionäre in ihren Verstecken. Darunter war Sawahiris Stellvertreter Abu Mohamed al-Masri, der vor zwei Jahren in der iranischen Hauptstadt Teheran erschossen wurde – wahrscheinlich von israelischen Agenten im Auftrag Washingtons.
Der Verfolgungsdruck erschwert die Kommunikation zwischen der Al-Kaida-Führung und lokalen Organisationen. An große Terroranschläge auf den Westen wie die Anschläge vom 11. September 2001 war für Sawahiri nicht zu denken. Dieser Druck wird nicht nachlassen: Der Drohnenangriff des amerikanischen Geheimdienstes auf Sawahiri in der afghanischen Hauptstadt Kabul war auch ein Signal an andere Anführer.
Al-Kaida-Zentrale verlor schon vor al-Sawahiris Tod an Einfluss
Unter diesem Druck sei es für die Führung von Al-Kaida „schwierig, wenn nicht unmöglich, eine globale Terrororganisation zu leiten“, meint der Terrorismus-Experte Daniel Byman von der US-Denkfabrik Brookings Institution. Bymans Kollege Charles Lister vom Nahost-Institut in Washington kommentierte, der Anschlag auf Sawahiri könnte die „Totenglocke“ für Al-Kaida als globale Organisation gewesen sein.
Schon zu Sawahiris Lebzeiten verlor die Al-Kaida-Zentrale viel Einfluss auf Ableger des Terrornetzwerkes. In Syrien sagte sich die Nusra-Front von Al-Kaida los, ohne dass Sawahiri das verhindern konnte. Der Islamische Staat (IS) wurde für Al-Kaida zur Konkurrenz, bis das „Kalifat“ des IS kollabierte und auch seine Anführer von den USA ins Visier genommen wurden. So entstand ein „lokales Modell des Dschihad“, wie Lister es nennt. Kleinere Gruppen, auf sich allein gestellt, fühlen sich nicht mehr an Anweisungen einer weit entfernten Zentrale gebunden.
Wer wird Nachfolger von Aiman al-Sawahiri?
Wer nach Sawahiri neuer Chef von Al-Kaida wird, ist offen. Lister sieht den Ägypter Saif al-Adel als aussichtsreichsten Kandidaten. Adel lebte lange im Iran; nach einigen Berichten ist er immer noch dort, nach anderen Informationen ist er heute in Afghanistan. Adel sei wegen seiner Verbindung zum Iran in der Organisation umstritten, sagt Lister: Der schiitische Iran ist ein Gegner der sunnitischen Extremisten von Al-Kaida, toleriert aber die Anwesenheit von Al-Kaida-Vertretern im Land, weil die Terrororganisation dafür auf Anschläge im Iran verzichtet. Ein anderer Aspirant ist Ahmed Umar, Anführer von Al-Schabab, dem Ableger von Al-Kaida in Somalia. Auch Sawahiris Schwiegersohn Abdel Rahman al-Magrebi dürfte Chancen auf den Al-Kaida-Chefposten haben. Der Marokkaner, ein in Deutschland ausgebildeter Software-Experte, führt die Mediengruppe von Al-Kaida, Al Sahab.
Der neue Chef wird damit leben müssen, dass sein Wort weniger gilt, als das bei bin Laden der Fall war. Die Zentrifugalkräfte bei Al-Kaida bedeuten aber nicht, dass die Terror-Gefahr sinkt. Al-Schabab tötete bei einem Anschlag vor einigen Monaten mindestens 30 Soldaten der Afrikanischen Union. Die Al-Kaida-Organisation auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) organisierte vor drei Jahren einen Anschlag in den USA: Ein saudisches AQAP-Mitglied erschoss auf einem Stützpunkt der US-Marine in Florida drei Seeleute.
Auch von der Al-Kaida-Zentrale könnte neue Gefahr ausgehen, denn der künftige Anführer könnte versuchen, seine Führungsposition mit einem Anschlag im Westen zu festigen.