Julian Assange wirkt wütend und verzweifelt, als er im Juni 2019 vor den Augen der Weltöffentlichkeit aus der ecuadorianischen Botschaft in London gezerrt wird. Er sieht verwahrlost aus, trägt einen langen Bart. Männer tragen ihn in Handschellen aus dem Gebäude. "Das Vereinigte Königreich muss sich wehren", ruft Assange noch, dann fährt ein Kastenwagen mit ihm davon.
Assange sei "kein Held", sagt Großbritanniens damaliger Außenminister. Unsinn, entgegnet der damalige Vorsitzende der oppositionellen Labour-Partei: Der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks habe "uns die Wahrheit darüber gesagt, was tatsächlich in Afghanistan und im Irak passiert ist". Die USA sehen das entschieden anders – und beschuldigen Assange unter anderem der Gefährdung von Menschenleben durch die Veröffentlichung geheimer Militärdokumente in den Jahren 2010 und 2011. Die Frage ist: Rechtfertigt das seine Auslieferung, hatte Assange doch Kriegsverbrechen aufgedeckt? Die Frage ist: Ist er ein Held oder ein Verbrecher? Und vor allem: Wie geht es mit ihm weiter? Am kommenden Montag weiß man vielleicht mehr.
Im Belmarsh-Gefängnis in London wartet Julian Assange auf den Tag seiner möglichen Auslieferung an die USA
Der "Fall Assange" ist kompliziert. In Kürze: Im Jahr 2010 also veröffentlichte Wikileaks die brisanten Geheimdokumente aus den USA. Es folgte ein Ermittlungsverfahren der schwedischen Behörden – aufgrund angeblicher Sexualdelikte, die Assange vorgeworfen wurden. Aus Angst, über Schweden an die USA ausgeliefert zu werden, flüchtete der sich 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London. 2019 entzog ihm Ecuador das Asyl, Assange wurde verhaftet. Seither sitzt er in einer drei mal zwei Meter großen Zelle im Belmarsh-Gefängnis in London und wartet auf den "P-Day". So bezeichnet er den Tag seiner möglichen Auslieferung an die USA. Die Abkürzung steht für "plane", Flugzeug.
Die Lage spitzte sich immer stärker zu. Nachdem Assange alle juristischen Instanzen in Großbritannien durchlaufen hat, könnte jetzt seine Auslieferung an die USA tatsächlich unmittelbar bevorstehen. Sollte ihm am Montag das Recht auf ein weiteres Berufungsverfahren verweigert werden, bliebe ihm nur der Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dort würde sein Team sofort eine einstweilige Verfügung beantragen, hieß es. Oder aber: Die USA lenken ein.
Auch für Assanges Frau Stella ist die Situation überaus belastend. Wie sehr, das zeigte sich etwa kurz vor einer Anhörung im Februar. Anfang Februar hatte sie ihren Mann zuletzt im Gefängnis in London besucht. "Ich mache mir große Sorgen um seine Gesundheit", sagte sie. Er sei chronisch krank. Seinen Unterstützern zufolge ist er selbstmordgefährdet. Das Leben jedenfalls – mit Stella Assange hat er zwei Söhne – findet ohne ihn statt. Ihre beiden Jungen, sagte Stella Assange mit den Tränen kämpfend, wüssten nichts von der aktuellen Situation. "Wir wollen sie beschützen."
Am Mittwoch gab sie vor Journalistinnen und Journalisten in London eine Pressekonferenz. Sie gehe davon aus, dass es am Montag zu einer Entscheidung kommen werde, sagte sie. Und sprach von einem dritten, wohl eher unwahrscheinlichen Szenario: Die Richter könnten ihren Mann freilassen. Der stehe "unter großem Druck", sagte Stella Assange unserer Redaktion. Er plane, am Montag im Gericht vor Ort zu sein.
Die Öffentlichkeit solle ihren Mann nicht "als Person" wahrnehmen, sagt seine Frau Stella Assange
Wie isoliert Julian Assange ist, wurde im Frühjahr 2022 deutlich, als das Paar im Gefängnis heiratete. Stella Assange war erbost, weil kein Fotograf anwesend sein durfte. Alles Dinge, die anderen Gefangenen durchaus erlaubt seien, sagte sie. "Aber für Julian, der bisher nicht einmal eine Strafe verbüßt, scheinen andere Regeln zu gelten." Die Öffentlichkeit solle ihren Mann nicht "als Person" wahrnehmen. Der ehemalige UN-Menschenrechtskommissar Nils Melzer sah bereits vor Jahren
: Einschüchterung, Isolation, Willkür und Erniedrigung.Die Anklage durch die USA gegen Assange umfasst Punkte, die im Kontext der Verbreitung von als geheim eingestuftem Material und diplomatischen Dokumenten durch Wikileaks stehen. Im Falle einer Verurteilung drohen ihm in den USA bis zu 175 Jahre Haft unter wohl noch wesentlich härteren Bedingungen als in Großbritannien. "Es war auch von 30 oder 40 Jahren die Rede", sagte die UN-Sonderberichterstatterin über Folter, Alice Jill Edwards, unserer Redaktion. "Dann würde er in seinen 90ern freigelassen. Für mich ist das eine unverhältnismäßige Strafe für die Verbrechen, die ihm vorgeworfen werden."
Was viele bis heute überrascht: Assange ist kein US-Bürger, sondern Australier. 1971 in der Küstenstadt Townsville geboren, entdeckte er als Jugendlicher seine Leidenschaft fürs Programmieren. Als er 2006 Wikileaks gründete, wollte er eine Plattform für anonym eingereichte Dokumente oder Videos schaffen. Wikileaks veröffentlichte ein Handbuch des US-Militärs für das Gefangenenlager Guantanamo Bay oder gestohlene E-Mails der republikanischen Vizepräsidentschaftskandidatin von 2008, Sarah Palin. Weltweites Aufsehen erregte Wikileaks jedoch 2010 mit einem Video, das später unter dem Namen "Collateral Murder" bekannt wurde.
Das Video ist nach wie vor auf der Website abrufbar und sein Anblick ist schwer zu ertragen. Es zeigt, wie amerikanische Soldaten bei einem Einsatz in Bagdad im Jahr 2007 aus einem Kampfhubschrauber heraus Zivilisten töten. Die Bilder sind in Schwarz-Weiß, zu hören sind Funksprüche. Die Besatzung schießt auf eine Gruppe von Menschen, darunter zwei Reuters-Journalisten; die Besatzung verhöhnt einige der Opfer, alles Zivilisten. Das Video fügte der US-Regierung und dem Militär großen Schaden zu und machte Assange quasi über Nacht weltberühmt – und zugleich zu so etwas wie dem Staatsfeind Nummer eins der USA.
Assange sei ein engagierter Mensch, könne aber unberechenbar sein, sagt ein ehemaliger Wikileaks-Mitarbeiter
Im grellen Rampenlicht der Weltöffentlichkeit wuchsen allerdings auch die Zweifel an Assanges Person. Die einen sahen in ihm einen visionären Helden der Meinungsfreiheit, die anderen einen narzisstischen Widerling, der eine Gefahr für die zivilisierte Gesellschaft darstelle. So brachte es der ehemalige Wikileaks-Mitarbeiter James Ball in der Zeitung Guardian auf den Punkt. Die Realität, sagte Ball, würde keine der beiden Seiten zufriedenstellen. Assange sei ein engagierter Mensch mit einem beeindruckend scharfen Intellekt, könne aber arrogant und unberechenbar sein.
Als Assange im August 2010 in Schweden wegen mutmaßlicher Sexualdelikte angeklagt wurde – eine Klage, die dann aus Mangel an Beweisen fallen gelassen worden ist –, befürchtete er, nach einer Verurteilung direkt in die USA ausgewiesen zu werden. Von den britischen Behörden 2012 gegen Kaution freigelassen, sah er nur noch einen Ausweg: Er klopfte an die Tür der ecuadorianischen Botschaft in London, bat um politisches Asyl und erhielt Einlass. Manchmal bewegte sich ein Vorhang in "Flat 3B, 3 Hans Crescent", ihn selbst bekam man selten zu Gesicht. Assange wurde zum bekanntesten Geflüchteten überhaupt.
Fidel Narváez, bis zum Sommer 2018 Generalkonsul der Botschaft, zeichnete ein überwiegend positives Bild von Assanges ersten Jahren dort. Man habe sich mit der nicht einfachen Situation arrangiert. Unter Ecuadors neuem Präsidenten Lenín Moreno, dessen Amtszeit von 2017 bis 2021 reichte, wendete sich das Blatt. Assange wurde überwacht, seine Besuche eingeschränkt, selbst sein Rasierer wurde konfisziert. Mitarbeiter führten Buch, um Verhaltensweisen zu finden, die seine Ausweisung rechtfertigen würden.
Mit der Frage, ob Julian Assange an die USA ausgeliefert werden darf, beschäftigten sich britische Gerichte erstmals 2020. Denn eigentlich erlaubt ein Abkommen zwischen Großbritannien und den USA keine Auslieferung wegen politischer Delikte, zu denen in der Regel auch Spionage zählt. Diesen Umstand umging die britische Richterin Vanessa Baraitser mit einem "juristischen Taschenspielertrick", wie der ehemalige UN-Menschenrechtskommissar Nils Melzer es nennt, und berief sich stattdessen auf das Auslieferungsgesetz. Assange solle vorerst nicht in die USA ausgeflogen werden, urteilte sie im Januar 2021: Es bestehe die Gefahr, dass er sich angesichts der harten Bedingungen, die ihn in einem US-Gefängnis erwarten würden, das Leben nehmen könnte. Wiederum etwas später befand ein englisches Gericht, dass die Zusicherungen der USA ausreichend seien. Die englische Justiz hatte unter anderem eine Zusicherung verlangt, dass die USA im Falle Assanges auf die Todesstrafe verzichten. Das juristische Tauziehen um ihn füllt zahlreiche Medienberichte und ist Gegenstand unzähliger Diskussionen.
Christoph Safferling, Professor für Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Direktor der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien, steht einer Auslieferung von Assange wegen politischer Straftaten sehr kritisch gegenüber. Er begründet dies damit, dass auf diese Weise jemand, der aus schützenswerten Motiven gehandelt habe, "dem Feind vor die Füße geworfen" werde. "Jetzt kann man natürlich darüber streiten, ob es sich hier um ein politisches Delikt handelt. Aber ich würde sagen, ja", sagt Safferling im Gespräch.
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich gegen eine Auslieferung Assanges an die USA ausgesprochen
Ferner wurde in den vergangenen Jahren immer wieder diskutiert, ob Assange überhaupt ein "echter" Journalist sei. Immerhin hatte er 2010 Klarnamen von US-Informanten veröffentlicht und diese damit nach Ansicht der US-Staatsanwaltschaft in große Gefahr gebracht. Für Beate Streicher von Amnesty International lenken solche Diskussionen davon ab, dass Assanges Wikileaks-Tätigkeit von der Presse- und Meinungsfreiheit gedeckt gewesen sei. Diese gelte für Journalisten wie für Verleger, für die Wikileaks eine neue Arbeitsform geschaffen habe. Sie sehe die Gefahr eines Abschreckungseffekts. "Allein dadurch, dass es jetzt diese Anklage gibt und dass das so lange dauert, fragen sich natürlich viele andere Leute: Also, was publiziere ich jetzt in Richtung USA?"
Auch aus diesem Grund sind die Forderungen nach einer Freilassung Assanges in den vergangenen Wochen international lauter geworden. "Immer mehr Spitzenpolitiker sprechen sich für ihn aus", sagt zum Beispiel Kristinn Hrafnsson, der Chefredakteur von Wikileaks, am Mittwoch. Das australische Repräsentantenhaus in Canberra stimmte Mitte Februar dem Antrag eines Abgeordneten zu, der die USA und Großbritannien auffordert, alle Verfahren gegen Assange einzustellen und ihm die Rückkehr in seine Heimat Australien zu ermöglichen. Regierung und Opposition hatten zuvor kritisiert, dass sich das Verfahren gegen den 52-Jährigen viel zu lange hinziehe. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich erst im März gegen seine Auslieferung an die USA ausgesprochen.
Die UN-Sonderberichterstatterin über Folter, Alice Jill Edwards, will vor allem die US-Regierung zum Umdenken bewegen: "Ich würde die Vereinigten Staaten bitten, den Fall von Herrn Assange in einem größeren Kontext zu sehen", sagt sie. Er habe fünf Jahre in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis verbracht und damit "seine Zeit abgesessen". Die USA wollen nach den Worten von Präsident Joe Biden den australischen Antrag auf Einstellung der Strafverfolgung prüfen. "Wir denken darüber nach", sagte Biden im April im Weißen Haus auf eine entsprechende Frage. Weitere Details nannte er nicht.