Darf man sich ganz allgemein, aber sehr speziell in Krisenzeiten wie diesen, selber feiern, als Zeitung, als Redaktion? So sehr wir uns über den 75. Geburtstag der Augsburger Allgemeinen freuen, so wenig selbstverständlich ist das bei genauerem Überlegen. Nicht nur, weil Feiern gerade wegen Corona ohnehin etwas ganz und gar Nicht-Systemrelevantes ist. Sondern auch, weil Journalisten und ihre Glaubwürdigkeit zuletzt genauso ins Gerede gekommen sind wie die Zukunftsfähigkeit unserer Branche. Kann man da einfach auf die nächsten 75 Jahre anstoßen?
Ich glaube schon – und möchte dies erklären mit einigen Gedanken zum (Zu)Stand des Journalismus und unserer Leidenschaft für ihn als Redaktion. Denn es darf um Himmels willen nicht um Eitelkeiten gehen, wenn Journalisten (sich selber) feiern, und schon gar nicht um Jubiläen des Jubiläums willen. Es muss darum gehen, wofür Journalismus steht, auch – oder vielmehr gerade – in Zeiten der Debatte über die angebliche "Lügenpresse".
Was bedeutet uns Journalismus bei der Augsburger Allgemeinen heute?
Journalismus ist für uns: begeistert. Vor einiger Zeit saßen wir in der Redaktion zusammen, es ging um Europa, um die Europawahl. Wir rätselten, wir marterten uns: Wie kann man eine so tolle Idee wie Europa (darin waren wir uns einig!) spannend auf Papier beschreiben, ohne die Leser akuter Einschlafgefahr auszusetzen, wie so oft bei grauen Beschreibungen grauer Bürokraten in Brüssel? Eine Reise müssten wir machen, rief eine Kollegin – und dann ging es wild durcheinander, wohin, wann, wie lange? Und: Wer macht es? Darum mussten wir uns die geringsten Sorgen machen. Vier unserer tollkühnen Volontärinnen und Volontäre brachen beinahe umgehend auf, sie trauten sich auf eine Reise quer über den Kontinent, durch elf Länder. Sie wurden sogar überfallen, aber ihre Geschichten ließen sie sich nicht klauen, die erschienen auf vielen Seiten in einer Schwerpunktausgabe, umsichtig betreut und redigiert von den "alten Hasen" in der Redaktion. Dafür gab es sogar den Deutsch-Französischen Journalistenpreis. So eine gemeinsame Reise wagt nur, wer jeden Morgen begeistert aufwacht, Journalist sein zu dürfen.
Journalismus ist für uns: demütig. Es gab viele große Gerichtsprozesse in der jüngeren Zeit, große Tage auch für den Journalismus: das Verfahren gegen den Audi-Chef Stadler etwa, oder die Ermittlungen gegen einen Dopingarzt, der das Fair-Play-Prinzip im Sport mal eben wegspritzen wollte. Und es gibt immer ein Problem: nur wenige Plätze im Gerichtssaal für die Presse. Für uns ist das aber kein Problem – denn rasch fanden sich jeweils Kolleginnen und Kollegen, die sich die Nacht buchstäblich vor dem Saal campend um die Ohren schlugen, um für unsere Redaktion so einen Platz zu ergattern. Aufbleiben, Anstehen, sich nicht zu schade sein. Nur so erreicht man übrigens auch die Menschen, denen sonst niemand zuhört, die nicht im Scheinwerferlicht stehen – und die häufig die spannendsten Geschichten erzählen.
Journalisten müssen Fakten beschützen
Journalismus ist für uns: mutig. Journalismus ist kein Beruf für Helden. Das soll nicht heißen, dass es nicht durchaus heldenhafte Journalisten gibt. Aber Journalismus ist: in erster Linie Handwerk. Wir müssen Fakten zusammentragen, Fakten auch beschützen. Ohne faktentreue Medien klappt Demokratie nicht. Ohne den Fakten verpflichtete Polizisten ebenfalls nicht. Voriges Jahr standen all diese Leitlinien auf einmal im Kreuzfeuer. An einem späten Abend ereignete sich das furchtbare Tötungsdelikt auf dem Augsburger Königsplatz. Schon wenig später war in "sozialen Netzwerken" vielen ganz vieles klar. Etwa, dass eine Vertuschung der Täternationalität liefe, orchestriert, na klar, von Medien und Polizei. Nur, klar war da noch gar nichts. Es wurde ermittelt, es wurden Fakten zusammengetragen, es wurde recherchiert. Man muss – Handwerk! – in solchen Fällen alles untersuchen, alle Fakten prüfen. Man muss in einem demokratischen Rechtsstaat auf der Basis von Fakten handeln, statt mit Vorurteilen oder Vorverurteilungen – auch nicht nachdem Verdächtige festgenommen wurden, mit Migrationshintergrund. Denn was erklärt das genau? Unsere Zeitung schrieb damals: "Ob Jugendliche kriminell werden oder nicht, entscheidet nicht der genetische, sondern der soziale Hintergrund. Wer in schwierigen Verhältnissen aufwächst, und das ist bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund etwa aufgrund schlechterer Sprachkenntnisse der Fall, wird nicht automatisch kriminell, aber er hat ein höheres Risiko. Das ist keine Entschuldigung, aber eine Erklärung. Und in einer aufgeklärten Gesellschaft sind Erklärungen der Ansatz für Lösungen." Wir erhielten dafür Zuschriften wie diese: "Ihr Dreckslumpen von der Müllpresse, macht das Maul zu. Wer wie Ihr sein Vaterland verrät und die eigene Fahne hasst, gehört aus dem Land gejagt. Elende Dreckspresse, in die Tonne mit Euch!…Wenn das Volk in Augsburg aufsteht, wird die Redaktion dieses Drecksblattes brennen…"
Journalismus ist heute viel mehr auf Austausch angelegt
Hat die Redaktion sich davon einschüchtern oder gar aufhalten lassen? Natürlich nicht. Nur wenig später schrieben Kolleginnen und Kollegen zu dem Thema schon wieder, getreu dem Prinzip, dass im Rechtsstaat jeder das Recht auf alles Mögliche hat – aber nicht das Recht auf eigene Fakten.
Journalismus ist aus unserer Sicht (so unbescheiden das klingen mag): vielleicht besser denn je. Klar, das Geldverdienen ist nicht leichter geworden, obwohl wir das Glück haben, in einem Haus arbeiten zu dürfen, das klug wirtschaftet und vor allem Journalismus als echten Auftrag versteht. Vieles ist mühsamer im Berufsalltag, manches auch stressiger, das Internet wird nicht einfach verschwinden, wie manche vielleicht hofften. Aber unser Journalismus heute ist auch viel mehr auf Augenhöhe angelegt, auf Austausch mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Wir predigen nicht mehr von der Leitartikel-Kanzel, wir liefern Informationen, wir regen an zum Nachdenken, zum direkten Austausch, in Print, online, auf allen Kanälen. Das gelingt natürlich nicht immer, wir sind Menschen mit all ihren Schwächen, aber wenn es uns gelingt, gibt es in meiner Welt keinen Job, der glücklicher macht. Und nur wer selbst begeistert ist, kann die allerwichtigste Gruppe von allen begeistern: Sie, liebe Leserinnen und Leser! Gelingt uns das, ist mir keinen Moment bange um die Zukunft – die unserer Branche, unserer Gesellschaft, unserer Demokratie.
Wir freuen uns sehr, dass Sie heute mit uns feiern.
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