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Joschka Fischer im Interview: "Können nicht nur auf das Gute im Menschen vertrauen"

Interview

"Wir können nicht nur auf das Gute im Menschen vertrauen, das funktioniert nicht"

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    Joschka Fischer mahnt die Deutschen zu mehr Verantwortungsbewusstsein. Das Land müsse sich um seine eigene Sicherheit kümmern.
    Joschka Fischer mahnt die Deutschen zu mehr Verantwortungsbewusstsein. Das Land müsse sich um seine eigene Sicherheit kümmern. Foto: Bernhard Weizenegger

    Herr Fischer, in dieser Woche wurde das amerikanische Wahljahr mit den Vorwahlen in Iowa offiziell eingeläutet. Donald Trump hat deutlicher gewonnen, als es viele vorhergesagt hatten, und damit einen ersten Schritt in Richtung Weißes Haus getan. Worauf müssen wir Deutsche uns einstellen? 
    JOSCHKA FISCHER: Mich überrascht der Triumph von Trump nicht wirklich. Wer geglaubt hat, dass es am Ende doch anders ausgehen und schon nicht so schlimm wird, bei dem war viel Wunschdenken im Spiel. Doch, es wird so schlimm! Und wir haben uns nicht darauf vorbereitet.

    Worauf müssen wir uns genau vorbereiten? Was würde Trumps Wiederwahl für uns bedeuten?
    FISCHER: Trump ist ein großer „Freund“ Deutschlands – das meine ich natürlich ironisch. Ich weiß nicht warum, aber uns „liebt“ er besonders. Wir müssen uns also sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch auf einiges gefasst machen. Deshalb wird es Zeit, dass wir aufwachen und unserer Verantwortung gerecht werden. Der wichtigste Beitrag, den Deutschland leisten kann, ist, dass wir unsere Sicherheit stärker in die eigenen Hände nehmen. Das heißt: Wir müssen verstärkt aufrüsten. Ich hätte es mir im Leben nicht träumen lassen, dass ich mit 75 Jahren einmal einen solchen Satz sage. Aber die Welt hat sich geändert. Es ist kein Ausweis von Klugheit, an der eigenen Meinung festzuhalten, wenn sich die äußeren Bedingungen wandeln. 

    Für Deutschland steht also viel auf dem Spiel?
    FISCHER: Wir sind in einer Situation, in der wir sowohl wirtschaftlich, technologisch als auch sicherheitspolitisch ein riesiges Problem haben. Das billige russische Gas ist weg und kommt auch nicht wieder – trotz Sahra Wagenknecht. Der große chinesische Exportmarkt hat sich von einer Chance in eine Bedrohung verwandelt. Und ob die amerikanische Sicherheitsgarantie in der Nato die Präsidentschaftswahlen übersteht, das wissen wir nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie das nicht übersteht, ist groß. 

    Schlafwandelt Deutschland in eine Situation hinein, in der sich auf der einen Seite die Welt dramatisch verändert und wir auf der anderen Seite keinerlei Rezepte haben, wie wir damit umgehen?
    FISCHER: Ich glaube, es ist nicht die Frage nach einem Rezept – es ist eine Frage der Haltung. Nehmen Sie die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz. All das ist durchaus eine Chance für Deutschland und Europa. Aber das geht nur, wenn wir energisch einsteigen, wenn wir einen Plan haben. Wir haben das Kapital, wir haben das Potenzial. Wir nutzen beides nicht. Man kann eine solche Zäsur, wie wir sie gegenwärtig erleben, nicht mit Sparhaushalten bewältigen. Deutschland muss jetzt Geld ausgeben, damit die Zukunft gesichert ist. Es ist manchmal zum Verrücktwerden. 

    In Deutschland und in Europa wird die KI eher als Risiko gesehen, das man regulieren muss.
    FISCHER: Die KI ist wie eine Tür, von der wir nicht wissen, was uns dahinter erwartet. Aber sie bietet uns gleichzeitig die Möglichkeit aufzuholen, nachdem wir uns auf so vielen Zukunftsfeldern hoffnungslos haben abhängen lassen. 

    Warum fehlt uns so oft der Mut, etwas anzupacken?
    FISCHER: Es geschieht einfach nicht! Zumindest nicht in dem Maß, wie es möglich und nötig wäre. Auch ich bin nicht dafür, Geld auszugeben um des Geldausgebens willen. Was wir brauchen sind Zukunftsinvestitionen. Ein Beispiel: Was kommt nach der Automobilindustrie? Es ist schön und gut, wenn man Verbrenner länger laufen lässt – aber das ist nicht die Zukunft. Die liegt in der Elektrifizierung. Und da haben uns die Chinesen inzwischen gezeigt, wie es geht. Ich erinnere mich gut an die deutsche Solar-Industrie. Sie war weltweit führend. Bis man sich in der schwarz-gelben Regierung geweigert hat, sie zu subventionieren. China hat seine Industrie massiv mit Geld unterstützt – sie haben sich an die Weltspitze subventioniert. 

    Wladimir Putin, Präsident von Russland, wird für Europa eine dauerhafte Gefahr darstellen.
    Wladimir Putin, Präsident von Russland, wird für Europa eine dauerhafte Gefahr darstellen. Foto: Gavriil Grigorov, dpa

    Läuft es in anderen Ländern besser?
    FISCHER: In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron zwar gerade eine schwere Zeit, aber er unternimmt viel, er investiert.

    Ist vor diesem Hintergrund die deutsche Debatte über Sparzwänge falsch?
    FISCHER: Ich halte diese ganze Politik des ausgeglichenen Haushalts in der Krise für absolut falsch. Wir brauchen Investitionen. In unsere Zukunft und in unsere Sicherheit. Es ist eine massive Aufrüstung nötig. Glauben Sie mir, das ist nichts, was mir gefällt. Ich würde das Geld gerne anders ausgeben. Aber es ist ein Muss! Wir können Wladimir Putin nicht mehr vertrauen.

    Viele hatten gehofft, dass der Überfall des russischen Präsidenten auf die Ukraine uns sicherheitspolitisch erwachsen werden lässt. Ist das nicht geschehen?
    FISCHER: Ein Stück weit ist das gelungen. Aber die versprochenen 100 Milliarden Euro, die die Zeitenwende bringen soll, sind eben nur der Anfang. Wir sind noch lange nicht am Ziel. In Zeiten des Kalten Krieges hat Deutschland drei bis vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Verteidigung investiert. 

    Joschka Fischer sagt: "Wenn wir den Klimaschutz abschreiben würden, würden wir uns selbst abschreiben."
    Joschka Fischer sagt: "Wenn wir den Klimaschutz abschreiben würden, würden wir uns selbst abschreiben." Foto: Bernhard Weizenegger

    Jetzt schaffen wir nicht einmal 2 Prozent, das Versprechen an die Nato…
    FISCHER: Das ist eine Folge der Politik von Angela Merkel. Und dabei geht es mir nicht um Schuldzuweisungen. Wir müssen die Zeichen der Zeit erkennen: Trump ist für uns ein Sicherheitsrisiko, in der Ukraine tobt ein Krieg, genauso im Nahen Osten. Wir können nicht einfach nur auf das Gute im Menschen vertrauen, das funktioniert nicht. Es gab gute Gründe, warum die Deutschen zu Pazifisten geworden sind, nicht dass man mich da falsch versteht. Aber die Zeit hat sich so radikal geändert, dass es sträflich wäre, wenn wir uns nicht darauf einstellen würden.

    Sie haben eben Emmanuel Macron angesprochen. Der französische Präsident verfolgt nicht nur eine andere Wirtschaftspolitik, sondern auch eine andere Form der Kommunikation. Er spricht mit den Menschen. Das sehen wir bei unserer Regierungsspitze kaum. 
    FISCHER: Da würde ich nicht widersprechen. Warum der Kanzler meint, dass er durch verbissenes Schweigen Menschen überzeugen kann, erschließt sich mir nicht. 

    Als Sie Außenminister wurden, mussten sie mit dem Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan eine sehr weitreichende Entscheidung treffen. Sie haben Kämpfe durchgestanden. Warum kämpft Scholz nicht?
    FISCHER: Ich weiß es nicht. Aber er beschädigt sich selbst. Deshalb ist die Krise der gegenwärtigen Regierung zu großen Teilen eine Kanzlerkrise, das muss man ganz nüchtern feststellen. 

    Hat Scholz – mit Blick auf den Krieg in der Ukraine – Sorge, alle Fäden zu Russland zu kappen, wenn er zu viel wagt in der deutschen Sicherheitspolitik?
    FISCHER: Es ist richtig, dass er eine vorsichtige Gangart einschlägt und auf eine enge Zusammenarbeit mit US-Präsident Joe Biden setzt. Aber Entscheidungen immer wieder hinauszuzögern, das funktioniert auf Dauer nicht. Es geht auch gar nicht darum, alle Kontakte zu Russland abzubrechen. Aber es wird sehr schwer werden, auch nur ein Minimum an Vertrauen zur aktuellen russischen Regierung wiederherzustellen. Russland wird für Europa eine große Herausforderung bleiben. Wir teilen denselben Kontinent – aber aufgrund der imperialen Absichten, die Wladimir Putin hegt, wird es sehr schwer sein, künftig Kompromisse zu finden. 

    Muss Putin nur noch abwarten, bis ihm die Ukraine zufällt, weil die Zeit für ihn spielt?
    FISCHER: Die Ukraine wird es ihm nicht einfach machen. Dazu ist zu viel passiert, zu viele Menschen sind gestorben. Wer die Identität der Ukraine je angezweifelt hat, muss nach zwei Jahren Krieg erkennen: Putin hat diese Identität gestärkt. Es gibt ein Bewusstsein, dass die Ukraine eine eigenständige Nation ist. Diese Menschen werden nicht einfach aufgeben. 

    Für Präsident Wolodymyr Selenskyj wird es dennoch ein schwieriges Jahr. Er hat Schwierigkeiten, genügend Soldaten zu rekrutieren. Er hat Schwierigkeiten, den Krieg zu finanzieren. 
    FISCHER: Selenskyj hat es nicht einfach, ich bin froh, nicht in seiner Haut zu stecken. Je länger der Krieg sich hinzieht, umso schwieriger wird es für ihn. Und der Krieg wird sich hinziehen. Alle Verhandlungen, die aktuell geführt werden, können höchstens ein Einfrieren der Fronten erreichen. Aber weder die Russen noch die Ukrainer würden ihr Kriegsziel aufgeben. Russland will sich die Ukraine wieder einverleiben, das ist die Voraussetzung dafür, dass Putin seinen Weltmachtanspruch erfüllt sieht. Umgekehrt wollen die Ukrainerinnen und Ukrainer ihren Weg in Richtung Europa nicht verlassen. Und sie wollen ihr ganzes Gebiet zurückhaben, einschließlich der Krim. Beide Seiten werden maximal einen heißkalten Waffenstillstand erreichen. Es würde eine „line of control“, eine Demarkationslinie, entstehen, die sehr gefährlich wäre. An ihr würde die Sicherheit Europas hängen. 

    Wird es Putin tatsächlich wagen, auch andere Staaten anzugreifen?
    FISCHER: Moldawien hat er schon in seinem Visier. Wir stehen gerade erst am Beginn der russischen Revisionskriege. Putin will die früheren sowjetischen Territorien zurückholen. 

    Wird er auch einen Angriff auf einen Nato-Staat wagen?
    FISCHER: Das glaube ich nicht. Der Ukraine-Krieg hat ihm gezeigt, dass es für Russland schwer wird, mit der Rüstungstechnologie der Nato mitzuhalten. Das Beste, was wir für den Frieden tun können, ist deshalb – und ich sage es noch einmal –, massiv aufzurüsten. Niemand darf auf die Idee kommen, er könne das Bündnisgebiet angreifen.

    Warum hat die Politik Putins Machtanspruch nicht kommen sehen? Warnzeichen gab es ja genug, beispielsweise seine Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor vielen Jahren. 
    FISCHER: Es gab das Wunder namens Michail Gorbatschow. Dieses Wunder hat viele auf die falsche Spur geführt. Auch meine Haltung war, dass wir unsere Chance nutzen sollten. Was wir allesamt unterschätzt haben, war, dass Putin es ernst gemeint hat mit seinem Satz: Die schlimmste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts war die Auflösung der Sowjetunion. Wir haben es nicht ernst genommen. Das hat zur Folge, dass wir heute nicht mehr bei Immanuel Kant sind: vom ewigen Frieden. Wir sind bei Thomas Hobbes: Jeder kämpft gegen jeden. Darauf werden wir uns einstellen müssen. 

    Das wird für die Deutschen besonders schwer. Wir haben uns zu einer Friedensgesellschaft entwickelt.
    FISCHER: Dass die Deutschen nach diesem Sturz in die Hölle im Jahr 1945 instinktiv beschlossen hatten, dass sie von Weltpolitik nichts mehr wissen wollen, ist nachvollziehbar. Hinzu kam, dass wir in Westdeutschland einen Sieger hatten, der sogar noch eine Schutzfunktion für uns übernommen hat. Für die harten Sachen in der Außenpolitik waren seitdem die Amerikaner zuständig, in Deutschland hat sich eine pazifistische Grundhaltung breitgemacht. Aber diese Haltung funktioniert nicht mehr. Es ist vorbei.

    Wie kann Pazifismus im Jahr 2024 noch aussehen?
    FISCHER: Pazifismus ist die fortwährende Verpflichtung zum Frieden. Aber um diesen Frieden zu garantieren, um zu verhindern, dass es zu Bestialitäten kommt, muss man bereit sein zu kämpfen. 

    Von Ihnen stammt die Maxime „Nie wieder Auschwitz“. Hat dies, hat der grüne Einsatz für den Kosovo-Krieg nicht eine Veränderung bewirkt? 
    FISCHER: Spätestens die Kriege auf dem Balkan mit ihrem Blutvergießen, den Internierungslagern, den Massenvergewaltigungen haben uns klargemacht, dass ein Wendepunkt erreicht ist. Aber wir haben das – jenseits des Kosovo – nicht ernst genommen. Es ist auch verdammt schwer. Niemand sagt, dass es einfach ist. 

    Ein Blick auf die Scheich-Radwan-Viertel in Gaza-Stadt. Wie kann es in der Region wieder zu so etwas wie Frieden kommen?
    Ein Blick auf die Scheich-Radwan-Viertel in Gaza-Stadt. Wie kann es in der Region wieder zu so etwas wie Frieden kommen? Foto: Omar Ishaq, dpa

    Einfach ist es auch in Israel nicht. Die Regierung kämpft gegen die Terrororganisation Hamas. Gleichzeitig wird die Kritik lauter, dass mehr auf den Schutz der Zivilisten in Gaza geachtet werden müsste. Geht das zusammen?
    FISCHER: Die grauenvollen Taten der Hamas waren bewusst geplant, um Israel in eine Situation zu bringen, in der das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung in sich zusammenbricht. Wie bekämpft man eine Terrorgruppe, die sich innerhalb ihrer Bevölkerung versteckt? Israel muss die militärische Infrastruktur

    Was würde ein Außenminister Fischer heute im Nahost-Konflikt unternehmen?
    FISCHER: Die ganze Struktur dieses Konfliktes gründet darauf, dass zwei Völker dasselbe Land beanspruchen. Die Optionen liegen seit der Gründung des Staates Israel auf dem Tisch: Entweder gibt es eine Ein-Staat-Lösung, in der Juden und Palästinenser zusammenleben. Das haben die Beteiligten schon 1947 abgelehnt. Oder eine Zwei-Staaten-Lösung. Das hat die arabische Seite auch damals abgelehnt. An diesen Möglichkeiten hat sich bis heute nichts geändert. Es gibt keine dritte Option. Der Glaube, dass man ohne Rücksicht auf die Palästinenser eine Zukunft gestalten könne, ist seit dem 7. Oktober passé. An diesem Tag ist der Vulkan namens Nahost explodiert – mit fatalen Folgen. Es gibt keinen Frieden, ohne dass die Palästinenser Hoffnung haben.

    Kann der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu einen Teil zur Lösung beitragen?
    FISCHER: Nein, im Gegenteil. Netanjahu will keinen palästinensischen Staat. Wenn man in dieser Region Frieden haben will, brauchen wir die Zwei-Staaten-Lösung. Nur so haben die Palästinenser eine Perspektive. Das ist entscheidend. Auch, weil sich die Welt verändert hat. Der Nahost-Konflikt war schon während des Kalten Krieges ein Problem. Aber es bestand nie die Gefahr, dass er Auslöser eines großen Krieges werden könnte. Das hat sich durch die Einmischung des Iran geändert. Ich habe große Zweifel, dass die Hamas den Überfall auf Israel am 7. Oktober allein bewerkstelligen konnte…

    Was will der Iran?
    FISCHER: Der Iran hat kein Interesse an den Palästinensern. Für Teheran sind die Palästinenser Mittel zum Zweck, um die eigene regionale Dominanz durchzusetzen. Der Iran ist kein arabisches Land, er ist kein sunnitisches Land. Trotzdem ist es ihm mit viel strategischer Geduld und Skrupellosigkeit gelungen, ein Netzwerk von Terrorgruppen aufzubauen, das ihm sehr viel Einfluss garantiert. Der 7. Oktober hat uns eines gezeigt: Es gibt eine Trennlinie zwischen den Menschen auf der Straße und den Regierungen. Die Regierungen, etwa in Saudi-Arabien, würden gerne Frieden schließen mit Israel. Aber die Straße wird es nicht zulassen. Das befeuert der Iran. 

    Wird der Iran auch selbst aktiv in den Krieg im Nahen Osten eingreifen?
    FISCHER: Die Vereinigten Staaten versuchen, das zu verhindern, indem sie zwei Flugzeugträgergruppen ins östliche Mittelmeer geschickt haben. Das war ein wichtiger Schritt, denn das Signal ist in Teheran angekommen. Dort will man keine direkte militärische Konfrontation mit den USA. 

    Würden sich auch in dieser Frage die Vorzeichen ändern bei einer Wiederwahl Trumps?
    FISCHER: Davon müssen wir ausgehen. Die Anhängerschaft von Donald Trump will keine weiteren militärischen Interventionen. Ihr sitzt der Irak-Krieg noch in den Knochen. Die Soldaten kamen hauptsächlich aus den Bundesstaaten des Mittleren Westens der USA, sie mussten die größten Opfer bringen. Das hat die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft verstärkt. 

    Trump wird sich auch dem Konflikt mit China stellen müssen. In Peking blickt man ganz unverhohlen nach Taiwan… 
    FISCHER: Die USA sind nach ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg zur globalen Supermacht aufgestiegen, auch wegen der Erfolge im asiatischen Raum. Die Sicherheit Japans und Südkoreas hängt an der Garantie Amerikas, ähnlich wie in Europa. Das Beispiel Taiwan steht beispielhaft für die Lage der Welt: die Ukraine, Putin, das Wirrwarr im Nahen Osten, der Konflikt im Südchinesischen Meer und in der Taiwanstraße – das ist die Rezeptur für einen globalen Albtraum. 

    Wir haben eben über Ihre Maxime „Nie wieder Auschwitz“ gesprochen. Der Satz damals ging noch weiter: „Nie wieder Faschismus.“ Nun erleben wir ausgerechnet in einer Zeit, in der die Grünen und die SPD mitregieren, den beispiellosen Aufstieg der AfD. Wie ist das zu erklären?
    FISCHER: Die AfD ist eine Nazipartei, Björn Höcke ist ein Nazi. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass diese Partei in Thüringen eine Mehrheit bekommen könnte bei der Landtagswahl… Nach 1945 hat sich bei uns der Glaube festgesetzt, dass einzig Adolf Hitler und sein Machtzirkel für den Nationalsozialismus verantwortlich waren. Doch offensichtlich schlummert da etwas in manchen Deutschen, das wir übersehen haben. Mich erschüttert das zutiefst. 

    Ist die AfD ein Ost-Phänomen?
    FISCHER: Ich halte das für einen Fehler, das den Ostdeutschen in die Schuhe zu schieben. Erinnern Sie sich an die NPD: Sie kam einmal beinahe in den Bundestag. 

    Die AfD scheint ja auch eine Art Sammelbecken für Menschen zu sein, die aus ganz unterschiedlichen Gründen unzufrieden sind. Ein großes Thema ist Migration. Die propalästinensischen Demos etwa stießen vielen im Land auf. Wie schätzen Sie das ein?
    FISCHER: Wir – auch und vor allem die politisch Linken – haben einen großen Fehler gemacht, indem wir uns von der Union in eine Scheindebatte über eine Leitkultur haben verwickeln lassen. Unsere Leitkultur ist das Grundgesetz. Punkt. Wer hierherkommt, kommt in den Geltungsbereich des Grundgesetzes. Und wer das nicht akzeptiert, der hat sich in der Adresse geirrt. Denn unter den wachsenden Ressentiments leiden doch vor allem diejenigen, die Schutz gesucht haben, die so leben wollen wie wir, die ihren Kindern eine Perspektive geben wollen. Es war ein Fehler, nicht klarzumachen, was es heißt, Deutscher zu werden. Mit diesem Schritt geht jeder einen historischen Vertrag ein. Migration ist nie einfach. Aber Migration bietet uns auch eine Chance. 

    Inzwischen demonstrieren nicht mehr die Israel-Kritiker, sondern die Bauern, die Mitte der Gesellschaft…
    FISCHER: Als alter Demonstrant darf ich Ihnen sagen: Das hätte ich mir mal gewünscht, staatlich subventioniert zur Demo zu fahren. Diese riesigen Traktoren! Diese Leute meinen, sie hätten einen Anspruch darauf, dass ihr Diesel von uns bezahlt wird! Darauf muss man erst mal kommen.

    Zeigt nicht diese Debatte auch, dass allein das Wort Klimaschutz so verbrannt ist, dass bei diesem Thema kaum mehr etwas zu machen ist? Die Heizungspläne von Bundeswirtschaftsminister Habeck haben ja auch nicht zur Akzeptanz von Klimaschutz beigetragen.
    FISCHER: Wenn wir den Klimaschutz abschreiben würden, würden wir uns selbst abschreiben. Aber natürlich würde ich mir wünschen, dass die Regierung ihr Ohr näher am Volk hat. Der Klimaschutz ist eine Herausforderung, die nicht weggeht, nur weil wir die Augen verschließen und uns die Ohren zuhalten. Im Gegenteil. 

    Die aktuelle Krisenlage macht es nicht einfacher, den Menschen diesen Befund zu vermitteln.
    FISCHER: Ja nun, das ist Politik. Es ist ein großer Irrtum, zu meinen, Otto und Ottilie Normalverbraucher seien doof. Das sind sie nicht. Das kann ich aus der Summe meiner Lebenserfahrungen sagen. Sie mögen nicht immer politisch präzise analysieren, aber sie sehen genau, was vor sich geht. 

    Haben Sie manchmal Mitleid mit der heutigen Bundesregierung?
    FISCHER: Nein! Niemand wird gezwungen, in eine Regierung einzutreten. 

    Der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer im Gespräch mit Chefredakteur Peter Müller und Politikredakteurin Margit Hufnagel.
    Der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer im Gespräch mit Chefredakteur Peter Müller und Politikredakteurin Margit Hufnagel. Foto: Bernhard Weizenegger

    Zur Person

    Joschka Fischer, 75, hat einen weiten Weg zurückgelegt. Er wird am 12. April 1948 in Gerabronn in Baden-Württemberg als Sohn eines Metzgers geboren. Das Gymnasium verlässt er schon in der 10. Klasse ohne Abschluss, eine Fotografenlehre bricht er ab. Fischer wird ab 1967 in der Studentenbewegung und in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) aktiv, siedelt nach Frankfurt am Main über. Dort besucht er an der Universität als Gasthörer Vorlesungen linker Vordenker wie Theodor Adorno, Jürgen Habermas und Oskar Negt. Seinen Lebensunterhalt verdient Fischer mit Gelegenheitsjobs, später als Taxifahrer. 1982 tritt Fischer bei den Grünen ein. Schon ein Jahr später wird der Realo in den Bundestag gewählt. In Hessen bilden 1985 SPD und Grüne die erste rot-grüne Koalition Deutschlands. Fischer wird bundesweit erster Grünen-Minister, zuständig für Umwelt und Energie. Die Koalition zerbricht 1987, erlebt aber 1991 eine Neuauflage, erneut mit Fischer als Umweltminister. 1994 wechselt er wieder in den Bundestag. Seine große Stunde kommt 1998 mit dem rot-grünen Sieg bei der Bundestagswahl. Kanzler Schröder ernennt Fischer zum Außenminister und Vizekanzler, was er bis zum Scheitern von Rot-Grün bei der

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