Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Jahrestag 7. Oktober: Das Trauma des Hamas-Überfalls

Nahost-Krieg

Vor einem Jahr überfiel die Hamas Israel: „Das ganze Land ist wie traumatisiert“

    • |
    • |
    Keren Twig mit dem Bild ihres Bruders Yiftach, der am 7. Oktober 2023 von der Hamas erschossen wurde.
    Keren Twig mit dem Bild ihres Bruders Yiftach, der am 7. Oktober 2023 von der Hamas erschossen wurde. Foto: Mareike Enghusen

    Der gelbe Müllcontainer, in dem Yiftach Twig die letzten Stunden seines Lebens verbringt, steht noch immer dort: auf einem Sandplatz in der Nähe des Kibbutz Re’im, dem Gelände des Musikfestivals „Nova“, nur wenige Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Als Terroristen der Hamas das Festival am Morgen des 7. Oktober 2023 überfallen, versteckt sich Twig mit einem guten Dutzend anderer junger Menschen zwischen dem Müll. Stundenlang harren sie dort aus, bis die Angreifer neun von ihnen erschießen – auch Yiftach Twig. Er wurde nur 27 Jahre alt.

    Ein knappes Jahr danach steht seine Schwester Keren Twig, 47, vor dem Container. Es ist staubig, heiß, die Sonne brennt. „Yiftach und ich standen uns sehr nahe“, sagt sie, „trotz des Altersunterschieds.“ Als an jenem Tag die ersten Meldungen über einen Terroranschlag eingehen, sei ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass ihr Bruder womöglich nicht zurückkehren würde. Mehr als einmal kommen ihr die Tränen, als sie von ihm spricht.

    In der Nacht auf den 7. Oktober macht sich Yiftach auf den Weg zum Festival, zusammen mit vier Freunden: Unbeschwert feiern sie zunächst zwischen Tausenden anderen. Videos zeigen junge Frauen und Männer, die im Dämmerlicht der aufgehenden Sonne tanzen. Viele Frauen tragen bauchfreie Tops, manche der Tanzenden sind barfuß: Im Süden Israels ist es noch warm zu dieser Jahreszeit.

    „Er sagte mir, er habe sich in einem Müllcontainer versteckt und sei in Sicherheit.“

    Als sie erfährt, was an der Grenze zu Gaza gerade passiert, ruft Twig besorgt ihren Bruder an. „Er sagte mir, er habe sich in einem Müllcontainer versteckt und sei in Sicherheit.“ Einem Freund aber schreibt er später: „Sie sind hier. Sie sind neben dem Container. Gleich erledigen sie uns.“

    Es gibt eine Handyaufnahme davon, wie Yiftach Twig in pinkfarbenem Shirt und kurzer Hose zwischen schwarzen Müllsäcken sitzt. Fast fünf Stunden harren er und die anderen dort aus. Um 9:36 schreibt er: „Falls mir etwas passiert, sag meinen Eltern, dass ich sie liebe.“ Zwei junge Frauen, die das Massaker überleben, erzählen anschließend, Yiftach habe sich auf sie geworfen und mit seinem Körper vor den Kugeln geschützt. Seine vier Freunde werden erschossen, als sie versuchen, im Wagen zu fliehen.

    Fast 1200 Menschen ermorden die Terroristen an jenem Tag, viele auf besonders grausame Art und Weise. 240 verschleppen sie in den Gazastreifen. In den Kibbuzim nahe der Grenze werden ganze Familien ausgelöscht. Über 360 der Ermordeten hatten, wie Yiftach Twig und seine Freunde, das Festival besucht.

    Noch immer hält die Hamas 101 Geiseln in ihrer Gewalt

    Als seine Schwester nun den Schauplatz des Massakers und die Gedenkstätte dort noch einmal besucht, zerreißt plötzlich ein Knall die Stille: Artilleriefeuer im Gazastreifen. Zwar hat Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant kürzlich verkündet, die Hamas sei keine „organisierte militärische Kraft“ mehr. Dennoch gehen die Kämpfe weiter, wenngleich auf kleinerer Flamme. Über 40.000 Palästinenser sollen bislang ums Leben gekommen sein, wobei die Hamas-Behörden nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheiden und ihre Zahlen auch sonst nicht überprüfbar sind. Über 300 israelische Soldaten sind dort gefallen, den 7. Oktober nicht eingerechnet. Und noch immer hält die Hamas 101 Geiseln in ihrer Gewalt. Wie viele noch leben, weiß niemand.

    „Sie haben gedacht, nach zehn Minuten im Schutzraum wäre der Spuk wieder vorbei“, sagt Udi Goren, ein Fotograf und Dokumentarfilmer, dessen Cousin Tal Haimi wie Yiftach Twig zu den Opfern des 7. Oktober gehört. Als Tal starb, war seine Frau Ella gerade schwanger, inzwischen hat sie ihr viertes Kind zur Welt gebracht – einen Sohn, der seinen Vater nie kennen lernen wird.

    Tal Haimi wird seit dem 7. Oktober 2023 vermisst. Seiner Frau Ella gelang es gerade noch, sich mit den drei Kindern im Haus zu verschanzen.
    Tal Haimi wird seit dem 7. Oktober 2023 vermisst. Seiner Frau Ella gelang es gerade noch, sich mit den drei Kindern im Haus zu verschanzen. Foto: Hostages and Missing Families Forum

    Ella Haimi gelingt es gerade noch, sich mit den drei Kindern in ihrem Haus im Kibbuz Nir Yitzhak zu verschanzen und die Tür mit Möbeln zu verrammeln. Sie selbst möchte nicht mit Journalisten reden, das übernimmt Udi Goren für sie, der von der verzweifelten Suche nach seinem Cousin erzählt, von den Kliniken, die sie erfolglos abgeklappert hätten und dem Tag, an dem sie erfuhren, dass Tal schon beim Angriff auf den Kibbuz ermordet und seine Leiche nach Gaza verschleppt wurde – ein junger Bauingenieur, handwerklich geschickt und bei allen im Dorf beliebt.

    Ihn begraben zu können, wäre auch eine Art Abschluss für die Familie. „Bring them back“, bringt sie zurück, steht auf dem schwarzen T-Shirt, das Udi Goren trägt – eine Aufforderung, die nicht nur die noch lebenden Geiseln meint, sondern auch die schon gestorbenen. Die Verbitterung, dass ihrer Regierung das noch nicht gelungen ist, sitzt tief bei den Angehörigen. „Wir haben nicht das Gefühl, dass sie alles dafür tut“, sagt Goren. Deshalb gehen die Familien jeden Samstag in Tel Aviv auf die Straße, deshalb fliegen sie nach Deutschland oder in die USA, um die Erinnerung an das monströse Verbrechen wach zu halten. Und deshalb, sagt Goren, müsse der Krieg gegen die Hamas auch weitergeführt werden. Zu Ende sei er erst, wenn alle Geiseln zurück seien, tote wie lebende.

    „Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis wir über diesen Tag hinwegkommen.“

    Krieg um des Krieges willen? Arye Sharuz Shalicar sitzt gerade im Auto, unterwegs in den Süden des Landes, in Richtung Gazastreifen. Die Telefonverbindung ist etwas wackelig, umso klarer aber ist das, was der 47-Jährige sagt. „Im Ausland“, klagt er, „wird die Situation hier in Israel häufig sehr vereinfacht dargestellt und unser Land häufig mit der Hamas der Hisbollah auf eine Stufe gestellt.“ Aber so lange die Islamisten ihre Angriffe nicht einstellten, und das tun sie bislang weder in Gaza noch im südlichen Libanon, werde Israel sie weiter bekämpfen müssen.

    Aufgewachsen als Sohn persischer Juden in Berlin und vor 23 Jahren nach Israel ausgewandert, dient Shalicar heute im zivilen Leben der Regierung von Benjamin Netanjahu als außenpolitischer Berater. Seit dem 7. Oktober aber schlüpft der Offizier der Reserve wie in dieser Woche auch immer wieder in seine Uniform, begleitet deutsche Regierungsdelegationen oder Journalisten zu den Schauplätzen der Massenmorde und versucht, Sensibilität für die Probleme Israels zu wecken.

    „Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis wir über diesen Tag hinwegkommen“, sagt er. Der Angriff der Hamas habe eine Wunde wieder aufgerissen, die Shalicar die „Shoa-Wunde“ nennt. Tausendfacher Judenmord, auf bestialische Art, das ungewisse Schicksal vieler Geiseln, dazu das Versagen des eigenen Sicherheitsapparates: „Das ganze Land ist wie traumatisiert.“ Kaum eine Familie, die nicht betroffen ist, sei es, weil ihr Kibbuz evakuiert werden musste, sei es, weil Angehörige am 7. Oktober ermordet oder verletzt wurden, sei es, weil Söhne und Töchter eingezogen wurden, im Kampf fielen oder verwundet wurden.

    Shalicar hat in seiner aktiven Zeit in der Armee viel erlebt, er war dabei, als im Jahr 2010 bewaffnete türkische Aktivisten mit einem vermeintlichen Hilfstransport die Seeblockade durchbrachen und versuchten, Waffen nach Gaza zu schmuggeln, ehe das Schiff von der israelischen Marine gestürmt wurde. Er hat einen Krieg mit dem Libanon miterlebt und mehrere Terroranschläge – und kann nicht verstehen, warum die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock jetzt behauptet, Israel habe sich selbst geschadet, als es Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah eliminierte. „Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Shalicar. „Nasrallah war nicht einfach nur ein Terrorist, er war eine Terrorgröße.“

    Ofra Simchai ist da ganz bei ihm. Sie weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, den Terror jeden Tag vor Augen zu haben. Die 75-Jährige ist eigentlich im Kibbuz Hagoshrim daheim, direkt an der Grenze zum Libanon gelegen. Oder soll man sagen: War daheim? „Wir wissen nicht, wann wir zurückkönnen“, sagt sie. gehört zu den mehr als 60.000 Menschen im Norden Israels, die nach den Angriffen der Hisbollah in Sicherheit gebracht wurden. Nun lebt sie mit ihrem Mann in der Wohnung von Freunden in Haifa. Andere aus ihrem Ort hatten weniger Glück und wurden in mittelprächtigen Hotels oder provisorischen Unterkünften einquartiert. Wirklich sicher aber fühlt Ofra sich auch in Haifa nicht. „Erst in der letzten Nacht hatten wir wieder Raketenalarm.“

    Neben dem ständigen Sirenengeheul ist es vor allem die Ungewissheit, die ihr zu schaffen macht. „Du kannst nichts planen und nichts unternehmen,“ sagt sie. Längere Fahrten mit dem Auto zu Freunden oder Verwandten verbieten sich von selbst, weil ihr dann bei einem Raketenangriff nichts anderes übrig bliebe, als schnell aus dem Auto zu steigen und sich flach auf den Boden zu legen. Und auch auf den Straßen in Haifa, sagt Ofra, habe sie ein ungutes Gefühl. „Man muss bei jedem Spaziergang vorsichtig sein.“

    Wann sie zurück in ihren Kibbuz kann, weiß sie nicht. In ihrem Garten dort ist längst alles vertrocknet, und im Haus sind die Fensterscheiben nach der Detonation einer Rakete zu Bruch gegangen. Das aber sind nur die materiellen Folgen, ungleich schwerer wiegen die emotionalen. Das Sich-Sorgen-Machen. Der Sohn von Ofra Simchai, verheiratet und Vater von drei Kindern, dient in der Armee, einer ihrer Schwiegersöhne ist ebenfalls Soldat und bei einem Raketenangriff verwundet worden. Eine ihrer vier Töchter lebt wie die Mutter in einem Kibbuz an der Grenze, auch sie wurde in Sicherheit gebracht und weiß nicht, ob sie noch einmal in ihrem alten Dorf leben kann, in den Vorhof der Hisbollah-Hölle, wenn man so will. Die Tochter ist eigentlich dagegen, ihr Mann dafür. „So geht es vielen Familien hier“, sagt Mutter Ofra. Nicht zu wissen, wie es weitergeht: „Das ist einfach nur schrecklich.“

    Sie selbst sehnt sich nach Hagroshim. “Das ist unser Zuhause.“, sagt sie. Sie versteht aber auch die Menschen, die am 7. Oktober von der Hamas überfallen wurden und nicht mehr in ihre Dörfer zurückwollen. „Die Erinnerung an das, was dort geschehen ist, würde sie dann nur noch stärker verfolgen“, sagt Ofra Simchai. „Das muss sich anfühlen, als würden die Überlebenden des Holocaust nach Auschwitz zurückkehren.“

    Vor einem Jahr überfiel die Hamas Israel: Eine Chronologie des Krieges

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden