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Jahresrückblick: Mensch, Merkel: Nahaufnahme einer Frau, die unser Land 16 Jahre lang führte

Mensch, Merkel: Nahaufnahme einer Frau, die unser Land 16 Jahre lang führte
Jahresrückblick

Mensch, Merkel: Nahaufnahme einer Frau, die unser Land 16 Jahre lang führte

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    Was bleibt, wenn jemand 16 Jahre lang ein Land regiert hat? Es gibt ein paar ganz konkrete Antworten, die sich da auflisten ließen. 17 Ehrendoktorwürden wurden Angela Merkel in ihrer Amtszeit verliehen. In Singapur hat man eine Orchidee nach ihr benannt: die „Dendrobium Angela Merkel“. Randerscheinungen, natürlich. Aber fest steht: In eineinhalb Jahrzehnten hat Merkel auf der Welt Spuren hinterlassen. Manche werden bald verblassen, viele bleiben, einige weisen gar den Weg in Richtungen, die ohne Merkel niemand eingeschlagen hätte. Hunderttausende Zeilen sind über diese Regierungszeit geschrieben worden – unmöglich, alles in einem Artikel auch nur anzureißen. 16 Jahre Kanzlerin – eine Annäherung.

    Aus dem Nichts an die Spitze: Der politische Aufstieg von Angela Merkel

    Im September 2005 bahnten die Deutschen den Weg für die erste Kanzlerin in Deutschland. Kaum jemand ahnte am Abend der knapp gewonnen Bundestagswahl, dass Angela Merkel eines Tages zur mächtigsten Frau der Welt auf der Forbes-Liste und zur beliebtesten Politikerin der Republik aufsteigen würde. Selbst ihre Gegner müssen heute anerkennen: Merkel hat eine Karriere hingelegt, die ihr zu Beginn kaum jemand zugetraut hätte.

    Ende 1990 tauchte sie praktisch aus dem Nichts in der Bundespolitik auf – und musste sich erst gegen eine eingeschworene Männerriege und ihren scheinbar allmächtigen Ziehvater Helmut Kohl durchsetzen.

    Die Kanzlerin und der Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl: In seine Fußstapfen trat Angela Merkel.
    Die Kanzlerin und der Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl: In seine Fußstapfen trat Angela Merkel. Foto: Michael Jung, dpa (Archivbild)

    Als „mein Mädchen“ pflegte der große Pfälzer die brave Ostdeutsche – Hobbys: Lesen, Wandern und Gartenarbeit – gönnerhaft zu bezeichnen. In der Boulevardpresse musste sich die Pfarrerstochter (eines der Etiketten, die ihr bis heute wohl am häufigsten aufgeklebt wurden), die ein Faible für klassische Musik, die Puhdys und Bruce Springsteen hat, zudem noch hämische Bemerkungen über ihre wenig modische Frisur gefallen lassen. Zehn Jahre später wendete sich das Blatt: Merkel war jetzt Vorsitzende der CDU, die Männerriege hatte das Nachsehen und Kohl fiel im Zuge der Spendenaffäre in Ungnade.

    Die Kanzlerin hatte 1999 jenen mittlerweile berühmten FAZ-Artikel lanciert, der die Abnabelung der CDU von Kohl einleitete. Jahre später wollte Merkel mit der ihr eigenen Verschmitztheit von einer Palastrevolte nichts mehr wissen. „Der Artikel war damals in einer von vielen vielleicht nicht erkannten, aber doch starken inneren Verbundenheit geschrieben, aber auch in der Überzeugung, eine notwendige Auseinandersetzung in einer Sache zu führen“, erklärte Merkel in einem ihrer wenigen persönlichen Interviews, das der mittlerweile gestorbene Politikwissenschaftler Gerd Langguth mit ihr führte.

    Merkel-Biografin: Kanzlerin erlebte den Mauerfall als Befreiung aus unfreier DDR

    Merkel sagt zwar immer, Geschichte wiederhole sich nicht – und wenn, dann nur als Farce. Aber ihr selbstbewusster Umgang mit der so unbesiegbar erscheinenden Ikone Kohl wiederholte sich am 18. September 2005. Der noch amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder gab am Wahlabend in der „Elefantenrunde“ vor laufenden Fernsehkameras den starken Mann: „Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Also ich meine, wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen.“ Merkel blieb äußerlich gelassen und vor dem Hintergrund ihrer darauffolgenden Jahre als Kanzlerin darf als gesichert angenommen werden, dass sie sich auch innerlich zurücklehnte und längst ausrechnet hatte, was dem testosterongesteuerten Schröder in diesem Augenblick nicht klar war: Er hatte verloren, sie gewonnen. Und er machte mit seiner Pöbelei alles noch schlimmer.

    Die Merkel-Biografin Jacqueline Boysen hat eine weitere Erklärung für diese abgeklärte Art. Merkel war keine Karrieristin. Für sie war es schon ein Geschenk, frei über ihren Lebensweg entscheiden zu können. Sie habe ihre Jugend in der DDR ganz bewusst als unfreies Leben wahrgenommen, sagt die Autorin. Und sie habe später ebenso bewusst den Fall der Mauer erlebt und die Möglichkeit, dass sie auf einmal rauskonnte – raus aus ihren gewohnten Bahnen. Nicht mehr gegängelt zu werden, nicht mehr in ein ideologisches System gezwungen zu sein, das sei für sie und ihr späteres Handeln prägend geworden.

    Immer diese Medien: Angela Merkel gab während ihrer Amtszeit selten Interviews

    Die Kanzlerin war nie eine Rampensau wie Gerhard Schröder. Ihre Parteitagsreden entfachten selten Begeisterung, Talkshow-Auftritte lassen sich an einer Hand abzählen. Nicht gerade dankbar für Journalisten. Und doch war das Verhältnis der Kanzlerin zu den Medien durchaus entspannt. Zwar gab sie selten Interviews, betrachtete Journalisten aber anders als beispielsweise Helmut Kohl nicht grundsätzlich mit Argwohn.

    Am ehesten kam man an den Menschen Merkel auf ihren Auslandsreisen heran. Dann setzte sie sich abends im Hotel schon mal an den Tisch der mitreisenden Reporter und plauderte ein bisschen. In solchen Situationen zeigte die sonst eher spröde wirkende Politikerin ihren Sinn für Humor. Die Macht ist ihr nicht zu Kopf gestiegen. Als ein Rückflug aus den USA nach Berlin von den Aschewolken eines isländischen Vulkans durchkreuzt und nach Lissabon umgeleitet wurde, ließ sie sich nicht etwa mit dem Helikopter nach Deutschland fliegen. Sie bestand darauf, die ganze Delegation gemeinsam nach Hause zu bringen. Zwei Tage dauerte die Odyssee am Ende – samt Busfahrt ab Rom und Reifenpanne. Doch die Kanzlerin blieb gelassen.

    Merkel und die Männer: Viele haben die Kanzlerin unterschätzt

    Wäre Merkels Leben ein Film, könnte der Untertitel auch lauten: „Unvollendete Karrieren ehrgeiziger Männer pflasterten ihren Weg“. Merkel zog auch an Kohls Kronprinzen Wolfgang Schäuble vorbei und führte die CDU als Parteichefin zu neuen Wahlerfolgen und Umfrage-Hochs. Während mächtige Ministerpräsidenten die Frau aus dem Osten an der Parteispitze allenfalls als kurze Episode hinzunehmen bereit waren, ging Merkel ihren Weg zum Gipfel unbeirrt weiter. Seilschaften wie den sogenannten Andenpakt – zu dem etwa Roland Koch oder Christian Wulff gehörten – hängte sie ab.

    Ein kluger Schachzug: 2002 überließ Angela Merkel dem damaligen CSU-Chef Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur.
    Ein kluger Schachzug: 2002 überließ Angela Merkel dem damaligen CSU-Chef Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur. Foto: Karl-Josef Hildenbrand, dpa (Archivbild)

    Im Januar 2002 fand dann in Wolfratshausen jenes Frühstück statt, das in die Geschichtsbücher eingehen sollte: Merkel ließ CSU-Chef Edmund Stoiber den Vortritt zur Kanzlerkandidatur. Was ihr zunächst als Schwäche und böser Karriereknick ausgelegt wurde, erwies sich später als kluger Schachzug. Der Bayer scheiterte als Kanzlerkandidat, Merkel war einen weiteren männlichen Konkurrenten los. Bei einem Empfang in Seoul im Jahr 2010 – Merkel nahm dort eine ihrer Ehrendoktorwürden entgegen – ließ sie ihr Männerbild deutlich durchblicken. In der Uni, erzählte die Diplom-Physikerin, seien die Männer bei der Laborarbeit „meistens sofort zu den Knöpfen oder zu Lötstäben“ gerannt und hätten losgelegt. Sie hingegen „habe erst einmal noch nachgedacht und überlegt“.

    Merkel setzte den "Women20"-Gipfel durch und gab damit Frauen eine Bühne

    Aber hat die erste Kanzlerin Deutschlands auch die Gleichberechtigung vorangebracht? Mit ihrer langjährigen Büroleiterin Beate Baumann und ihrer Medienberaterin Eva Christiansen vertraute die Kanzlerin in erster Linie auf den Rat zweier Frauen. Mit der CDU-Politikerin und Ex-Ministerin Annette Schavan ist sie privat eng befreundet – legendär wurden die Fotos, als die beiden 2011 während eines Termins auf der Messe Cebit vom Rücktritt Karl-Theodor zu Guttenbergs erfuhren, der bei seiner Doktorarbeit geschummelt hatte. Sie konnten kaum verbergen, dass der Fall des Glamour-Ministers sie ein wenig amüsierte. Dass Schavan später selbst unter Plagiatsverdacht geraten sollte, konnte da ja noch niemand ahnen.

    Das Bild zeigt Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem W.20-Gipfel 2017 mit der Präsidentin des Verbandes deutscher Unternehmerinnen, Stephanie Bschorr (links) und der Vorsitzenden des Deutschen Frauenrates, Mona Küppers (rechts).
    Das Bild zeigt Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem W.20-Gipfel 2017 mit der Präsidentin des Verbandes deutscher Unternehmerinnen, Stephanie Bschorr (links) und der Vorsitzenden des Deutschen Frauenrates, Mona Küppers (rechts). Foto: Gregor Fischer, dpa (Archivbild)

    Merkel setzte in Anlehnung an den Gipfel der 20 führenden Industrienationen G20 den „Women20“ durch und gab Frauen aus allen Teilen der Welt eine Bühne. Auf ihren Auslandsreisen traf sie sich bevorzugt mit Frauen, wohl wissend, dass ihre eigene Popularität deren Anliegen nützlich war. Anderseits tut sich gerade die CDU mit der Frauenförderung heute noch schwer. Und im Bundestag liegt der Frauenanteil nicht mal bei einem Drittel.

    Anlaufschwierigkeiten: Die weltweite Finanzkrise überschattete Merkels ersten Jahre

    Was Merkel in ihrer eigenen Reflexion „nachdenken und überlegen“ nennt, wirkt auf Kritiker eher wie taktieren und aussitzen. Die ersten Jahre ihrer Kanzlerschaft mäandert sie durch die nationale und internationale Politik. Sie muss erst ins Amt finden. Es gibt ein berühmtes Foto aus dem Jahr 2007, als Merkel in Moskau auf Wladimir Putin trifft. Der russische Präsident weiß, dass Merkel Angst vor Hunden hat und lässt seinen großen Labrador vor laufenden Fernsehkameras um seine Besucherin herumstreunen. Merkel sind Unbehagen und Ohnmacht anzusehen. Wäre ihr Ähnliches später passiert, hätte die Welt eine souveränere Kanzlerin erlebt.

    Nur einer hier ist hier entspannt. Merkel und Putin samt Hund im Jahr 2007.
    Nur einer hier ist hier entspannt. Merkel und Putin samt Hund im Jahr 2007. Foto: PA/SERGEI CHIRIKOV, dpa (Archivbild)

    Im Herbst 2008 wurde die neue Angela Merkel geboren. In der weltweiten Finanzkrise, aus der sich nahtlos die Eurokrise entwickelte, perfektionierte sie all die Fähigkeiten, die ihr in den Jahren danach den Chefinnensessel im Kanzleramt sicherten: Sie analysierte schnell, scharte verlässliche Leute um sich herum, bildete sich im Team eine Meinung – und legte los. „Viele politische Entscheidungen, so stellt es sich mir jedenfalls dar, sind keine, wo man sagen kann: 100 Prozent Ja und null Prozent Nein“, sagte sie einmal. Im Grunde bestünden diese aus 40 Prozent der eigenen Meinung und 60 Prozent an anderen Argumenten. Merkel entwickelte ein Handlungsmuster, das sie auch bei späteren Krisen anwandte.

    An der Seite von Finanzminister Peer Steinbrück versicherte sie, die Spareinlagen der Deutschen seien sicher. Das nahm den Menschen die Angst, so wie drei Jahre später, als im japanischen Fukushima ein Atomreaktor in die Luft flog. Für Merkel war das der Anlass, ihre eigenen Überzeugungen über den Haufen zu werfen. „So sehr ich mich im Herbst letzten Jahres im Rahmen unseres umfassenden Energiekonzepts auch für die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert“, begründete sie im Juni 2011 vor dem Bundestag ihre radikale Kehrtwende in der Energiepolitik und den Vollzug des Atomausstiegs.

    Angela Merkel profilierte sich als Kanzlerin zum ersten Mal mit ihrer Führung in der Finanzkrise. Rechts im Bild ist der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD).
    Angela Merkel profilierte sich als Kanzlerin zum ersten Mal mit ihrer Führung in der Finanzkrise. Rechts im Bild ist der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD). Foto: Rainer Jensen, dpa (Archivbild)

    Merkel nahm damals die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger wahr und machte daraus praktische Politik. Einen ähnlichen Zweck verfolgte auch ihr Aufruf „Wir schaffen das“ im August 2015, als zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen und nach der ersten Welle der Hilfsbereitschaft bei immer mehr Menschen auch Ängste auslösten.

    "Mutti" der Nation: So kam Angela Merkel zu ihrem Spitznamen

    Es kam nicht von ungefähr, dass der Spitzname „Mutti“ im Finanzkrisen-Herbst 2008 auftauchte. Merkel vermittelte den Deutschen zum ersten Mal das Gefühl: „Ich kümmere mich schon um euch.“ Abgesehen davon ist „Mutti“ eine interessante Beschreibung für eine Frau, die selbst keine Kinder hat. Sie selbst ging recht souverän mit dem Thema um. Als sie in einer Radiosendung von einer jungen Hörerin zur Vereinbarkeit von Karriere und Kinderwunsch gefragt wurde, konterte die Kanzlerin zur Verblüffung aller mit einer Gegenfrage: „Haben Sie denn schon einen Vater für Ihre Kinder, einen potenziellen?“ Als das verneint wurde, bot Merkel Hilfe bei der Partnersuche an: „Na, den müssen wir dann auch noch finden.“

    Das ist sie wieder - die Merkel-Raute - das bekannte Markenzeichen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
    Das ist sie wieder - die Merkel-Raute - das bekannte Markenzeichen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Foto: Michael Kappeler, dpa

    Merkel blieb die „Mutti“ der Nation. Wenn es aufregend wird, bilden ihre Hände bis heute die berühmte Raute – sie entstand einst, weil sie bei Fototerminen nicht wusste, wohin mit den Armen, wie sie einmal zugab. In der letzten großen Krise, die sie zu bewältigen hatte, lernten die Deutschen die Gelassenheit und Sachlichkeit der Kanzlerin noch einmal neu zu schätzen. Merkel gab in der Pandemie stets die Mahnerin. „Ich weiß nicht, ob sie ihren Spitznamen ,Mutti‘ mag oder nicht. Aber sie hat sich so verhalten wie eine Mutter, die ihre Kinder vor den Übeltätern der Welt bewahren will“, sagte der ehemalige Vizekanzler Sigmar Gabriel einmal.

    Biografin Jacqueline Boysen konstatierte, Merkel habe den teils fast liebevollen, aber eben auch despektierlichen Spitznamen „ertragen und steht auch da in einem erstaunlichen Maße über den Dingen“. Durch ihr hohes Verantwortungsbewusstsein habe Merkel zwar eine „seltsame Form von Mütterlichkeit, also Verlässlichkeit, entwickelt. Aber die geht bei ihr nicht einher mit übermäßiger Emotionalität“.

    Viel Feind und oft wenig Ehr’: Merkel beeindruckte selbst politische Gegner

    Merkel musste in ihrem Politikerinnenleben viel einstecken. Sie wird geschätzt, aber nicht geliebt. Insbesondere ihre Flüchtlingspolitik in den Jahren 2015 und 2016 förderte regelrechten Hass und Verachtung zutage. In der Bevölkerung, aber auch in den eigenen Reihen. Der damalige Innenminister und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer ließ der Chefin der Schwesterpartei im Asylstreit kaum eine ruhige Minute. Auf dem CSU-Parteitag 2015 führte er die Kanzlerin vor und ließ später verlauten, er werde sich doch nicht von einer Kanzlerin feuern lassen, der er in den Sattel verholfen habe. Es war die Zeit, als Merkels Beliebtheitswerte einbrachen. Als von der vermeintlichen „Kanzlerinnendämmerung“ die Rede war.

    Angela Merkel: Meilensteile im Leben einer Kanzlerschaft

    Frau Bundeskanzler?

    Der bayerische Politiker-Parodist Wolfgang Krebs beschäftigte sich kürzlich mit der Frage „Kann eigentlich auch ein Mann Bundeskanzlerin werden?“ Da sieht man mal, wie 16 Jahre eine Gesellschaft prägen können. Schließlich ist es zu Beginn der Ära von Angela Merkel genau anders herum. Damals zucken die Deutschen noch unwillkürlich beim Feierabendbier zusammen, wenn eine Meldung in der „Tagesschau“ mit den Worten „Bundeskanzlerin Angela Merkel …“ beginnt. Am 22. November 2005 wird die damals 51-Jährige vereidigt – und tatsächlich fragen sich die Deutschen, wie man die neue Regierungschefin nun ansprechen wird. „Frau Bundeskanzler“? Die Gesellschaft für deutsche Sprache sorgt umgehend für Klarheit und macht „Bundeskanzlerin“ zum Wort des Jahres.

    Wie im Märchen

    Merkels Zeit im neuen Amt beginnt märchenhaft. Im Sommer 2006 berauschen sich die Deutschen an der Fußball-Weltmeisterschaft daheim – und an einer völlig neuen, unverkrampften Art, das eigene Land zu feiern. Die Welt staunt über die schwarz-rot-goldene Lebensfreude des deutschen Sommermärchens, das für die Fußballer zwar kein Happy End hat, aber das Ansehen der Bundes republik dauerhaft verbessert. Mittendrin eine Kanzlerin, die auf der Tribüne etwas unbeholfen, aber dafür höchst ungekünstelt die Arme hochreißt und nach dem Spiel schon mal in der Kabine auftaucht, um sich mit Poldi und Schweini fotografieren zu lassen. Merkel spielt die Fußball-Anhängerin nicht nur für die Kameras, sie interessiert sich tatsächlich dafür. Dass ihr Herz für den FC Bayern München schlägt, hängt sie aber lieber nicht an die große Glocke.

    Alltagsarbeit

    Weniger Euphorie löst eine der ersten großen politischen Entscheidungen ihrer Kanzlerschaft aus. Die Deutschen sollen länger arbeiten. Mit ihrer Entscheidung im Jahr 2007, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre anzuheben, will die Große Koalition den Anstieg der Beiträge bremsen. Heute wieder aktuell.

    Angst um die Ersparnisse

    Im Herbst 2008 beginnt für die Bundeskanzlerin ihre erste von vielen Krisen. In den USA bricht ein unheilvolles System aus faulen Krediten in sich zusammen. Die „Subprime-Krise“ treibt Bankriesen wie Lehman Brothers in die Pleite und vernichtet innerhalb weniger Tage Milliardenwerte an den Börsen. Das weltweite Finanzsystem steht am Rande des Abgrundes. Millionen Kleinanleger sind ruiniert, Hochstapler fliegen auf. Und die Deutschen haben Angst um ihre Ersparnisse.

    So entschlossen wie selten in ihrer Kanzlerschaft geht Angela Merkel in die Offensive. Gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück tritt sie vor die Kameras und verspricht den Bürgerinnen und Bürgern, der Staat garantiere dafür, dass ihr Geld sicher ist. Ob sie dieses Versprechen bei einem Kollaps des Bankensystems hätte halten können, ist mehr als fraglich. Doch mit ihrem Versprechen verhindern Merkel und Steinbrück, dass die Menschen ihr Geld panikartig von Konten und Sparbüchern holen und eben jenen drohenden Kollaps herbeiführen.

    Die klammen Griechen

    In der Folge des Bankendesasters geraten auch immer wieder Staaten in finanzielle Schieflage. Aus der Finanzkrise entstehen die Schuldenkrise und die Euro-Krise. Die „klammen Griechen“ werden zum Symbol für katastrophale Haushaltspolitik. Lange, bevor der Brexit Europa in Turbulenzen stürzen wird, geht es um den Grexit. Im Streit um einen Austritt Griechenlands aus dem Euro wird die deutsche Kanzlerin zur Hassfigur – Nazi-Vergleiche inklusive. In langen Verhandlungsnächten in Brüssel ringen die Staats- und Regierungschefs um gigantische Rettungsschirme – und die Bedingungen für solche Hilfsgelder. Die Zukunft der noch jungen gemeinsamen Währung steht auf dem Spiel. Auch Deutschland stürzt in eine tiefe Rezession. Mit milliardenschweren Konjunkturpaketen hält die Bundesregierung dagegen. Berühmt wird die sogenannte Abwrackprämie, die den Deutschen den Kauf eines neuen Autos schmackhaft machen soll.

    Wieder Wahl

    2009 gewinnt Angela Merkel das Duell gegen SPD-Herausforderer Frank-Walter Steinmeier. Allerdings kassiert sie das schlechteste Ergebnis aller Zeiten für die Union. Zur zweiten Amtszeit verhilft ihr eine starke FDP, mit deren Chef Guido Westerwelle sie ein freundschaftliches Verhältnis verbindet.

    Der GAU

    Als Naturwissenschaftlerin macht Merkel nüchternen Pragmatismus zum Regierungsprinzip. Wir prüfen alte Antworten und geben neue, heißt ihr Prinzip. Dass diese neuen Antworten oftmals am Markenkern von CDU und CSU kratzen, nimmt sie in Kauf. Wenn ihre Gegner der Kanzlerin politische Beliebigkeit attestieren, beziehen sie sich neben dem Ende der Wehrpflicht oder der „Ehe für alle“ immer auch auf eine Katastrophe, die im März 2011 in Japan stattfindet.

    Obwohl die schwarz-gelbe Regierung gerade erst beschlossen hatte, die deutschen Kernkraftwerke länger laufen zu lassen als geplant, dreht sich der Wind nach dem GAU von Fukushima. Merkel ruft die Energiewende aus und verkündet, schon Ende 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen. „Die Ereignisse in Japan lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind“, sagt Merkel. Die Energiekonzerne toben und kämpfen am Ende erfolgreich um Milliardenentschädigungen.

    Abhören unter Freunden

    Mit US-Präsident Barack Obama pflegt die Kanzlerin ein fast herzliches, auf jeden Fall vertrauensvolles Verhältnis – das im Sommer 2013 auf eine harte Probe gestellt wird. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllt, wie der amerikanische Auslandsgeheimdienst NSA die eigenen Verbündeten ausspioniert hat. Es gibt Spekulationen, die US-Schnüffler könnten sogar Merkels Handy abgehört haben. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA stehen vor einer ernsten Belastungsprobe. „Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht“, lässt Merkel ihren Sprecher klarstellen.

    Höhepunkt

    Die meisten Deutschen fühlen sich inzwischen recht gut aufgehoben bei ihrer Kanzlerin, die eine Krise nach der anderen so unaufgeregt abarbeitet, dass andere Nationen nur staunen können. Bei der Bundestagswahl 2013 holt die Amtsinhaberin mit 41,5 Prozent der Stimmen ein Ergebnis, das beinahe an alte Bonner Zeiten erinnert und schrammt nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. Weil die von Merkel schier erdrückte FDP allerdings aus dem Bundestag fliegt, geht ihr der Koalitionspartner verloren. Es kommt zu einer Neuauflage der Großen Koalition, die damals ihren Namen noch verdient hat.

    Weltmeisterin

    Die Karrieren von Angela Merkel und Joachim Löw verlaufen nicht nur in ihrer Dauer parallel. Bundeskanzlerin und Bundestrainer befinden sich auch nahezu zeitgleich auf dem Zenit ihres Schaffens und ihrer Popularität. Im Sommer des Jahres 2014 tummelt sich auf brasilianischen Fußball-Tribünen allerhand Politprominenz – auch Merkel jettet um die Welt, um die Nationalmannschaft live zu sehen. Heute gäbe es dafür womöglich einen Shitstorm (nichts Wichtigeres zu tun? Und das alles mit unseren Steuergeldern?), damals jedoch surfen Merkel und Deutschlands Fußballer auf einer Sympathiewelle bis zum Weltmeistertitel. Besser wird es nicht. Die Deutschen entfremden sich in den folgenden Jahren von ihrem Nationalteam – und von ihrer Kanzlerin.

    Wir schaffen das

    Im nächsten Jahr werden sich die Menschen am meisten über einen Satz streiten, der doch eigentlich ganz und gar positiv klingt: „Wir schaffen das.“ Drei Worte, die Zuversicht vermitteln sollen – und Angst provozieren. Drei Worte voller Emotion – aus dem Munde einer Kanzlerin, der Emotionen bislang eher unheimlich erschienen. Merkel will ein Deutschland, das Menschen in Not hilft, das ihnen Schutz bietet. Und sie unterschätzt, was diese Worte auslösen. Wenige Wochen zuvor hatte man in der SPD noch darüber nachgedacht, ob man überhaupt jemanden gegen die unschlagbare Merkel ins Rennen sollte. Nun schlagen der Kanzlerin plötzlich Wut und Abneigung entgegen.

    Die Bilder von hunderttausenden Flüchtlingen, die sich nach Deutschland aufmachen, spalten die Republik und lassen rechts von CDU und CSU eine Partei erstarken, die mit der Stimmung Stimmen macht. Erstmals in ihrer Zeit als CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin gerät Merkel aus den eigenen Reihen unter Beschuss. Mit CSU-Chef Horst Seehofer wird ausgerechnet der Mann zu ihrem härtesten Rivalen, der vor der Flüchtlingskrise noch davon gesprochen hatte, mit dieser Kanzlerin sei bei der nächsten Bundestagswahl die absolute Mehrheit drin. Beim CSU-Parteitag stellt er Merkel bloß (Stichwort Schulmädchen), er spricht von einer „Herrschaft des Unrechts“ und meint damit die Politik der eigenen Bundesregierung.

    Letzter Sieg

    Merkel hat ihre Politik nie besonders gut erklärt. Solange ihr die Deutschen vertrauten, störte das keinen besonders. Doch nun, da viele sich Sorgen machen, ob das Land so viele Flüchtlinge integrieren kann, wird ihr diese Sprachlosigkeit zum Verhängnis. Die Bundestagswahl 2017 markiert eine Zeitenwende. Die in Teilen rechtsextreme AfD zieht erstmals ins Parlament ein. Die Union stürzt auf den niedrigsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik. Dennoch bleibt sie klar stärkste Kraft. Und zur Wahrheit gehört auch, dass viele Menschen gerade wegen Merkel CDU und CSU gewählt haben.

    Dennoch schmeckt dieser letzte Wahlsieg bitter. Merkel geht schwer angeschlagen in die vierte Amtszeit. Bei Landtagswahlen kassiert die CDU eine Niederlage nach der anderen. „Merkel muss weg“, brüllen nun nicht mehr nur die Wutbürger im Osten. Auch in der eigenen Partei macht sich eine gewisse Merkelmüdigkeit breit. Verpasst die ewige Kanzlerin das, was ihr viele Beobachter zugetraut hatten: einen selbstbestimmten Abgang von der politischen Bühne? Kein Bundeskanzler vor ihr ging freiwillig, alle wurden abgewählt, sahen sich zum Rücktritt gezwungen oder wurden gestürzt. Passiert Merkel das auch?

    Anfang vom Ende

    Ein Jahr nach der Bundestagswahl beginnt der Rückzug auf Raten. Nach einem miesen Ergebnis der CDU bei der Landtagswahl in Hessen 2018 kündigt sie an, beim nächsten Parteitag nicht mehr für das Amt der Parteivorsitzenden zu kandidieren. Außerdem erklärt sie, dass am Ende der Legislaturperiode 2021 auch im Kanzleramt Schluss sein wird. So nachdenklich, so persönlich hat man Merkel selten gesehen. Die Frage, ob eine derart angezählte Regierungschefin wirklich noch so lange im Amt bleiben kann, steht im Raum. Zumal in der zweiten Reihe umgehend der Kampf um das Erbe beginnt. Es wird ein Drama in zwei Akten. Im ersten Anlauf setzt sich Merkels Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer gegen Merkels Erzrivalen Friedrich Merz durch. Doch die Ära AKK wird nicht von langer Dauer sein. Was auch daran liegt, dass sich die neue Parteichefin im Schatten der Kanzlerin nicht entfalten kann. Nach zwei Jahren braucht die CDU schon wieder einen neuen Chef. Diesmal setzt sich Armin Laschet durch, der auch im Kanzleramt in Merkels Fußstapfen treten will.

    Die Pandemie

    Dass die Ära Merkel nicht einfach ihrem Ende entgegen plätschert, wie viele prognostiziert hatten, liegt an einem Virus, das im wahrsten Sinne des Wortes die Welt erobert. Anfang des Jahres 2020 breitet sich eine Pandemie aus, deren Ausmaß alle bisherigen Krisen, die Merkel zu meistern hatte, in den Schatten stellt. Dieses Mal geht es nicht um Geld, es geht um Leben und Tod. Und die Kanzlerin tut das, was oft vergeblich von ihr gefordert worden war, sie übernimmt die Führung. In einer Rede an die Nation stimmt sie das Land auf eine harte Zeit ein – womöglich ohne zu ahnen, wie einschneidend diese Krise wirklich sein wird. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, appelliert sie an die Deutschen. „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“

    Das Virus kostet allein in Deutschland mehr als 100.000 Menschen das Leben. Der Alltag kommt zum Stillstand, Geschäfte, Gastronomie, Schulen und Kindergärten schließen. Und in Merkel kommt wieder die Naturwissenschaftlerin durch, die Tabellen und Diagramme studiert, die Risiken abwägt und zur großen Mahnerin wird. Zu Beginn der Pandemie versammeln sich die meisten Deutschen hinter der Kanzlerin, die schon als abgeschrieben galt. Mit ihrer sachlichen Art gibt sie den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl, dass das Land auch diese Herausforderung meistern wird. Während in den USA, Großbritannien oder Brasilien großmäulige Populisten die Gefahren ignorieren, führt Merkel – in unerwarteter Allianz mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder – das „Team Vorsicht“ an. Ihre Beliebtheitswerte steigen rasant und manch einer in der Union fragt sich, ob das mit dem Abschied aus dem Kanzleramt nicht doch ein bisschen verfrüht war. Doch je länger die Pandemie dauert, desto dünner werden die Nerven. Und so wird es Merkel kaum bereuen, der Versuchung nicht nachgegeben zu haben, doch noch einmal anzutreten.

    Das Ende

    Am 26. September wählten die Deutschen einen neuen Bundestag. Erstmals hat keiner der Kanzlerkandidaten einen Amtsbonus. Angela Merkel hat es doch geschafft, aus freien Stücken ihre Karriere zu beenden. Ihr Nachfolger ist SPD-Politiker Olaf Scholz. Die Deutschen werden sich wohl erst wieder an die Formulierung „Herr Bundeskanzler“ gewöhnen müssen. (msti)

    Doch selbst politische Gegner zeigten sich von der Kanzlerin immer wieder beeindruckt. Zu ihrem 60. Geburtstag lobte Sigmar Gabriel Merkel als herausragende Persönlichkeit und Politikerin. Es sei „zumindest zeitweise“ eine große Freude, mit ihr zusammenzuarbeiten, scherzte der SPD-Politiker damals und schob ein ernst gemeintes Kompliment hinterher: „Für mich sind Sie ein absolut zuverlässiger Mensch.“ Manchmal dauere es, bis man Merkels Wort habe, „aber dann gilt es“. Fragt man Gabriel sieben Jahre später nach dieser Laudatio, so steht er immer noch zu seinen Worten. „Ich würde alles genauso wieder sagen, denn an meiner Beurteilung der menschlichen wie politischen Qualitäten der Kanzlerin hat sich nichts geändert“, sagt er, hat aber eine kritische Ergänzung: „Eines hat Angela Merkel in ihrer so langen und erfolgreichen Kanzlerschaft allerdings nicht geschafft und vielleicht auch nicht gewollt: die Deutschen mental und politisch auf eine völlig veränderte Welt vorzubereiten.“

    Nach 16 Jahren zieht Angela Merkel einen Schlussstrich

    Die Orchidee „Dendrobium Angela Merkel“ kann bei entsprechender Pflege meterhoch werden und trotzt auch widrigen Bedingungen. Keine schlechte Wahl also für eine Politikerin, die es in ihrer Regierungszeit mit allerhand Widrigkeiten zu tun hatte. Die von US-Präsident Barack Obama mit der „Medal of Freedom“, der höchsten zivilen Auszeichnung der Vereinigten Staaten, ausgezeichnet wurde und sich die Jahre danach mit Obamas rabaukenhaftem Nachfolger Donald Trump herumschlagen musste. Die hoffnungsvolle Talente kommen und gescheiterte Existenzen gehen sah. Die als Klimakanzlerin einst gefeiert wurde und an der Erderwärmung und deren dramatischen Folgen doch nichts zu ändern vermochte.

    Mit US-Präsident Barack Obama pflegt die Kanzlerin ein fast herzliches, auf jeden Fall vertrauensvolles Verhältnis.
    Mit US-Präsident Barack Obama pflegt die Kanzlerin ein fast herzliches, auf jeden Fall vertrauensvolles Verhältnis. Foto: Peter Kneffel, dpa (Archiv)

    Merkel widerstand oft, hielt aus, hielt durch. Nur in wenigen Momenten zeigte sie, dass es selbst ihr zu viel wurde. Da waren die Schwächeanfälle während eines Interviews am Rande eines CDU-Parteitages sowie bei einem Staatsbesuch in Mexiko. Die deutsche Regierungschefin bekam beim Empfang mit militärischen Ehren für alle Umstehenden sichtbar das Zittern. Es gab weitere Zitteranfälle, die Kanzlerin absolvierte daraufhin einige öffentliche Termine im Sitzen.

    Als sie im Oktober 2018 ankündigte, nicht mehr für das Amt der CDU-Vorsitzenden zu kandidieren und 2021 auch als Kanzlerin Schluss zu machen, war auch das ein Zeichen von Müdigkeit. Sie hatte keine Lust mehr auf die innerparteilichen Vorwürfe, den Nervenkrieg, die Anfeindungen, das Lauern der anderen auf Fehler. Es gab später nicht wenige, die sich angesichts der erbitterten Auseinandersetzung um die Kanzlerkandidatur wünschten, sie möge diesen Entschluss womöglich doch widerrufen. Merkels Entschluss allerdings stand und steht fest. Felsenfest.

    Wie geht es weiter? Angela Merkel will keine politischen Ämter mehr übernehmen

    Und nun? Bei ihrem letzten Besuch in Washington öffnet sie die Tür zu ihrem Inneren einen Spaltbreit – und lässt fast so etwas wie eine Sehnsucht nach dem Abschied erkennen. Sie werde „nicht gleich die nächste Einladung annehmen, weil ich Angst habe, ich habe nichts zu tun und keiner will mich mehr“, sagt sie da. Sie wolle eine Pause einlegen und nachdenken, was sie eigentlich so interessiere. „Und dann werde ich vielleicht versuchen, was zu lesen, dann werden mir die Augen zufallen, weil ich müde bin, dann werde ich ein bisschen schlafen, und dann schauen wir mal.“

    Mit Ehemann Joachim Sauer trat Angela Merkel selten in der Öffentlichkeit auf. Bald hat das Paar mehr Zeit füreinander. Denkbar ist, dass beide dann gemeinsam verreisen.
    Mit Ehemann Joachim Sauer trat Angela Merkel selten in der Öffentlichkeit auf. Bald hat das Paar mehr Zeit füreinander. Denkbar ist, dass beide dann gemeinsam verreisen. Foto: Tobias Hase, dpa (Archiv)

    Wahrscheinlich würden ihr aus Gewohnheit viele Gedanken kommen, was sie jetzt so alles machen müsste. Aber „dann wird mir ganz schnell einfallen, dass das jetzt ein anderer macht. Und ich glaube, das wird mir sehr gut gefallen.“ Denkbar ist, dass sie mit ihrem Mann Joachim Sauer um die Welt reist, hier und da einen Vortrag hält, sich die Westküste der Vereinigten Staaten genauer anschaut – ein Wunsch, den sie früh in ihrer Amtszeit einmal äußerte. Denn die USA standen für sie stets für jene Freiheit, nach der sie sich in jungen Jahren so gesehnt hatte.

    Politische Ämter wird Merkel nicht mehr übernehmen. Es könnte dahinter auch eine Erkenntnis stecken, die sie anlässlich ihres 60. Geburtstages äußerte. Eine Weisheit, die auf ihre Kanzlerschaft ebenso anwendbar ist wie auf ihre persönliche Zukunft als Privatperson, als Mensch Merkel, dessen politisches Wirken Geschichte ist: „Wenn’s heute schön ist“, sagte die Kanzlerin damals, „muss es morgen nicht genauso sein.“

    Angela Merkel war 2018 zu Gast bei "Augsburger Allgemeine Live". Die Kanzlerin gab sich dabei humorvoll, schlagfertig – und versöhnlich gegenüber der CSU. Einen Auszug des Gesprächs sowie Videos finden Sie hier.

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