Es gibt Momente, die sieht man kommen und ist trotzdem irgendwie fassungslos, wenn sie tatsächlich wahr werden. Die Fünf in der Mathe-Schulaufgabe, der Ausgleich des FC Bayern München in der Nachspielzeit, die leere Chipspackung, die Reaktion von Donald Trump auf das Wahlergebnis. Keiner hatte ernsthaft damit gerechnet, dass der US-Präsident eine Niederlage mit Größe akzeptieren würde. Doch der Egozentriker im Weißen Haus hat es im November geschafft, selbst seine erbittertsten Gegner noch negativ zu überraschen. Es sind drei Worte, mit denen Trump Amerika in ernste Schwierigkeiten stürzt – verbreitet natürlich via Twitter, selbstverständlich in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen. "STOP THE COUNT!"
Der Anführer einer der stolzesten Demokratien dieses Planeten fordert, die Auszählung der Stimmen zu stoppen, als er sieht, dass sein Vorsprung dahinschmilzt wie ein Eisbecher in der Sonne. Er erklärt sich kurzerhand zum Sieger. Gleichzeitig will er übrigens in Bundesstaaten, die er verloren hat, so lange zählen lassen, bis das Ergebnis endlich stimmt. Am Ende ist der Vorsprung des gewählten Präsidenten Joe Biden so groß, dass Trumps verzweifelte Versuche, die Niederlage auf juristischem Wege in einen Sieg umzuetikettieren, nur noch wie eine Satire wirken, die zu schräg klingt, um wahr zu sein.
Kamala Harris telefoniert mit dem neuen US-Präsidenten
Das Ende der turbulenten Ära Trump beginnt irgendwo im Nirgendwo. Eine Frau, die offenbar gerade beim Joggen war, telefoniert mit ihrem Smartphone. "Wir haben es geschafft, Joe! Du wirst der nächste Präsident der Vereinigten Staaten", sagt Kamala Harris und lacht herzlich, aber auch ein bisschen ungläubig. Es ist der Moment, in dem ihr so richtig klar zu werden scheint, dass Joe Biden die Wahl tatsächlich gewonnen hat – und sie die erste Vizepräsidentin in der Geschichte der USA wird.
Mag Donald Trump auch noch so wüten, mag er in alle Ewigkeiten behaupten, die Wahl sei ihm gestohlen worden: Die amerikanische Demokratie hat gewackelt, doch sie hält stand. Gemeinsam mit Biden will Harris das tief gespaltene Land versöhnen. Das dürfte noch schwieriger werden, als die Wahl zu gewinnen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel wird emotional wie nie
Nimmt man den Hang zur Selbstdarstellung als Maßstab, dann ist Angela Merkel ziemlich exakt das Gegenteil ihres bisherigen Kollegen in Washington. Kühl, sachlich, nüchtern – so kennt man die Kanzlerin nun schon seit 15 Jahren. Emotionen zeigt sie allenfalls im Fußballstadion. Und dann das: Merkel hält eine Rede zur Lage der Nation. Eine Rede voller Pathos und Eindringlichkeit. "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst", appelliert sie im April an die Deutschen. Die erste Corona-Welle überrollt das Land – und mit ihr die Angst vor diesem unbekannten, mysteriösen Virus.
"Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg, gab es keine Herausforderung an unser Land, bei der es so sehr auf unser gemeinsames, solidarisches Handeln ankommt", sagt die Bundeskanzlerin. Es wird nicht ihr letzter emotionaler Auftritt in der (hoffentlich) letzten von vielen Krisen ihrer langen Amtszeit sein. Das irre Jahr mit Corona hat etwas mit uns gemacht. Es hat Menschen verändert. Sogar die ewige Angela Merkel auf den letzten Metern ihrer Kanzlerschaft.
Thomas Kemmerich wird ganz kurz Ministerpräsident von Thüringen
Von der ewigen Kanzlerin zum Kurzzeit-Regierungschef von Thüringen: Thomas Kemmerich wird im Februar Ministerpräsident. Das war so nicht zu erwarten, denn seine FDP stellt die kleinste Fraktion im Landtag. Gewählt wird er mit den Stimmen der AfD, die in Thüringen besonders radikal auftritt. "Tabubruch" dürfte in den folgenden Tagen zu den am häufigsten geschriebenen und getwitterten Worten der Republik gehören.
Dass Kemmerich die Wahl annimmt und Ministerpräsident von Björn Höckes Gnaden sein will, geht weltweit durch die Medien. Nach drei Tagen macht der FDP-Mann dem unwürdigen Schauspiel ein Ende und kündigt seinen Rücktritt an.
Gillamoos: Bayerische Politiker klopfen Sprüche – vor leeren Rängen
Im Rest der Republik soll es ja Menschen geben, die glauben, dass wir Bayern tatsächlich den ganzen Tag in Tracht herumlaufen und eine Mass Bier nach der anderen in uns hineinschütten. Und weil es nichts Schöneres gibt als gut gepflegte Klischees, haben sich Andreas Scheuer und Hubert Aiwanger gedacht, sie tun mal ein bisschen etwas fürs Bayern-Bild.
Die beiden Herren sind ja auch die ideale Besetzung für das kuriose Bühnenstück, das sich im September in Niederbayern abspielt. Die bierselige Sprücheklopferei beim Gillamoos wird in diesem Jahr coronabedingt als politisches Geisterspiel ausgetragen. Besser als gar nichts. Weil ein richtiger Bayer lässt sich sein Prosit der Gemütlichkeit doch nicht von so einem dahergelaufenen Virus aus dem Ausland verderben. Und so lassen sich der Andi von der CSU und der Hubert von den Freien Wählern vor leeren Rängen eben von einer zünftigen Stimmung anstecken, die es gar nicht gibt.
Ministerpräsident Markus Söder hält Hof im Königsschloss
Wo wir schon beim bayerischen Lebensgefühl sind: Wer im Freistaat urlaubt, kommt ja am König Ludwig II. und seinen Märchenschlössern nicht vorbei. Nun ist die Kanzlerin zwar genau genommen rein beruflich in Bayern unterwegs, aber ihr Gastgeber lässt sich nicht lumpen. Chiemsee, Schiffahrt, Kutsche, Schlossbesuch – das volle Programm fährt Ministerpräsident Markus Söder im September auf. Nun muss man zwar ehrlicherweise sagen, dass die Kutsche eher ein besserer Planwagen ist, aber die Harmonie unter weiß-blauem Himmel: Merkel zu Besuch bei Söder, in dem sich das bayerische Kabinett trifft, machen durchaus was her.
Ganz Deutschland spricht über die etwas kuriose Selbstinszenierung des vermeintlichen Sonnenkönigs Markus I., der sich offenbar zu Höherem berufen fühlt. Der will von alldem allerdings nichts wissen. Auf unsere Frage, ob das nicht ein bisschen dick aufgetragen war, antwortet er ein paar Tage später mit einem Augenzwinkern: "Warum? Wir haben Bayern von seiner schönsten Seite gezeigt. Wenn außergewöhnliche Gäste kommen, packt man das gute Geschirr aus." Was er eigentlich sagen will: Was können bitteschön wir dafür, dass es anderswo nicht so schön ist wie bei uns?
Der britische Premier Boris Johnson bedankt sich bei seinen Lebensrettern
Stichwort Insel: Die Briten machen uns in diesem Jahr auch keine Freude. Abgesehen von der ersten Meisterschaft des FC Liverpool nach 30 Jahren natürlich. Ansonsten: Das nervtötende Gezerre um den Brexit, und natürlich Corona. Premier Boris Johnson setzt zunächst auf das Prinzip "Insel der Seeligen" und macht wenig bis gar nichts gegen die Pandemie. Der Preis dafür ist hoch. Für die Briten, aber auch für ihn persönlich.
Johnson infiziert sich und liegt im April drei Tage lang auf der Intensivstation. Als er die Londoner Klinik wieder verlassen kann, wendet sich der sonst so selbstbewusste Polit-Rabauke demütig an die Ärzte und Pflegepersonal: "Ich kann Ihnen nicht genug danken, ich verdanken Ihnen mein Leben."
George Floyd ringt um sein Leben – 8:46 Minuten lang
Der letzte jener Momente, die von diesem Jahr bleiben werden, die wir nicht vergessen, ist zugleich der traurigste. Der Moment dauert acht Minuten und 46 Sekunden. So lange kniete ein Polizist in Minneapolis auf dem Nacken von George Floyd.
Der 46-jährige Afroamerikaner soll in einem Laden eine Schachtel Zigaretten mit Falschgeld bezahlt haben. Mitarbeiter des Geschäfts rufen die Polizei. Vor laufenden Kameras drückt ein Cop Floyd auf den Asphalt. "Ich kann nicht atmen", sagt dieser immer wieder. "Ich kann nicht atmen." Selbst als er das Bewusstsein verliert, bleibt das Knie in seinem Nacken. Floyd stirbt und mit ihm die Hoffnung, dass die USA ihr Rassismusproblem in den Griff bekommen. Es kommt zu Ausschreitungen. Schwarze Leben zählen – Black lives matter – wird zum Motto von Demonstrationen auf der ganzen Welt. Und zu einer Botschaft, die das Jahr überdauert.
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