Es war eine politische Nacht- und Nebelaktion, die wenig Aufsehen erregen sollte. Bereits Ende April verabschiedete die italienische Regierung ein Gesetzesdekret, das eigentlich nur Maßnahmen zur Umsetzung des in Folge der Pandemie aufgesetzten Konjunkturplans umfassen sollte. Unter Artikel 43 fand sich dann unverhofft auch eine neue Regelung für die „Entschädigung der Opfer von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Nachteil italienischer Staatsbürger durch die Truppen des Dritten Reiches in der Zeit vom 1. September 1939 bis zum 8. Mai 1945“. Ein hochsensibles Thema sollte fernab der Augen der Öffentlichkeit gelöst werden.
Doch die Diskussion um die Entschädigung italienischer NS-Opfer ist weiterhin nicht beigelegt. Verbände wie die Union der jüdischen Gemeinden in Italien (Ucei) kritisieren das Vorgehen. Die Opfervertreter haben vor allem zwei Kritikpunkte: Zum einen soll die Frage der Entschädigungen dem Regierungsdekret zufolge zeitlich befristet werden. Wer als Nachkomme oder direkt Betroffener nicht bis zum 30. Mai 2022 eine Klage vor Gericht in Italien eingereicht hat, dessen Ansprüche sollen erlöschen. „Wir haben uns an den Ministerpräsidenten gewendet, weil uns das Dekret bestürzt hat“, sagte Ucei-Vizepräsident Giulio Disegni.
Kritik an Deutschland gibt es von den jüdischen Gemeinden
Die jüdischen Gemeinden kritisieren vor allem die Tatsache, dass angesichts von „Kriegsverbrechen, schwerster und nicht verjährender Verbrechen“ ein Ablaufdatum für den Entschädigungsanspruch festgelegt wurde. „Wir wollen sicherstellen, dass gegen diejenigen vorgegangen werden kann, die Familien und enge Beziehungen auseinandergerissen haben“, sagte Disegni.
Die zweite Frage ist, warum Italien selbst für die Entschädigung der Opfer aufkommen soll und nicht die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches. So hatten es Gerichte in Italien bestimmt, vor denen Opfer und deren Angehörige geklagt hatten. Um sich fast 80 Jahre nach Kriegsende gegen massenhafte Schadensersatzforderungen zu wehren, hatte die Bundesrepublik Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingereicht und den Grundsatz der Staaten-Immunität geltend gemacht.
Deutschland macht bei Entschädigung von NS-Opfern frühere Zahlungen geltend
Italienische Gerichte planten zur Durchsetzung der Ansprüche auch deutsches Eigentum in Italien zu vollstrecken, wie etwa das Gebäude des Goethe-Instituts. Offenbar lenkte Italien, das seinerseits für Kolonial- und Kriegsverbrechen haftbar gemacht werden könnte, schließlich mit dem Dekret und der Einrichtung eines Fonds in Höhe von rund 55 Millionen Euro ein. Deutschland macht geltend, bereits früher Zahlungen geleistet zu haben und sich mit zahlreichen Initiativen für die Versöhnung eingesetzt zu haben, etwa die Einrichtung einer deutsch-italienischen Historiker-Kommission zur Erforschung der NS-Geschichte in Italien 2008.
Auch im italienischen Verband der ehemaligen Deportierten in die Nazi-Lager wird der Fall diskutiert, wie Präsident Dario Venegoni, Sohn zweier Lager-Insassen, bestätigt. „Viele unserer Mitglieder haben den Eindruck, hier soll ein Schlussstrich gezogen werden“, sagt er.