Wenn es nach den regierungsnahen Medien in der Türkei geht, dann war der Antrittsbesuch von Annalena Baerbock in der Türkei ein Fiasko für die Bundesaußenministerin und ein Triumph für Ankara. Baerbocks türkischer Amtskollege Mevlüt Cavusoglu habe die deutsche Ministerin abgewatscht, jubelte der Fernsehsender A-Haber. Doch Ankara hat keinen Grund zur Freude, denn Baerbock läutete mit ihrer Visite eine neue deutsche Türkei-Politik ein. Sie kritisierte öffentlich die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan und sprach mit Oppositionellen und Frauenrechtlerinnen – bisher war Berlin darauf bedacht gewesen, Erdogan nicht zu verärgern. Für die Türkei endet damit die Gewissheit, sich in Europa auf die Fürsprache Deutschlands verlassen zu können.
Als Baerbock bei ihrer Pressekonferenz mit Cavusoglu am Freitag in Istanbul die türkische Politik gegenüber Griechenland, die Missachtung europäischer Regeln bei der Inhaftierung des Kulturförderers Osman Kavala und die Pläne für einen neuen Einmarsch nach Syrien kritisierte, traf sie einen Nerv. Die türkische Regierung sieht ihr Land als mächtigen internationalen Akteur, der sich keine Belehrungen anhören muss.
Besuch von Baerbock: Türkischer Außenminister greift Deutschland an
Cavusoglu antwortete mit schweren Vorwürfen an Berlin. Deutschland habe seine früher „ausgewogene“ Haltung im türkisch-griechischen Dauerstreit aufgegeben und gehe heute der griechischen Propaganda auf den Leim. Der türkische Minister meinte damit Baerbocks Äußerungen in Athen unmittelbar vor ihrer Reise in die Türkei. Deutschland stehe im Streit zwischen der Türkei und Griechenland um die Abgrenzung von Hoheitsgebieten in der Ägäis „solidarisch an der Seite Griechenlands“, hatte sie gesagt.
Im Fall Kavala breitete Cavusoglu finstere Verschwörungstheorien aus. Deutschland benutze Kavala als Knüppel gegen die Türkei und finanziere ihn auch, behauptete er. Außerdem setze die Bundesrepublik andere Mitglieder des Europarats unter Druck, um das Ausschlussverfahren gegen die Türkei voranzutreiben.
Hält der neue Politikstil gegenüber der Türkei, was er verspricht?
Noch im März hatte die Bundesregierung beim ersten Besuch von Kanzler Olaf Scholz in Ankara den Eindruck vermittelt, bei der traditionell zurückhaltenden Position Deutschlands bleiben zu wollen. Scholz vermied scharfe Kritik an Erdogans Regierung und betonte die Gemeinsamkeiten. Baerbock gab diese Linie jetzt auf.
Die Ministerin will sich mit ihrer neuen Türkei-Politik nicht von einer Zusammenarbeit mit Ankara verabschieden. Sie lobte die türkische Vermittlung im Ukraine-Konflikt und sagte, Diplomaten aus Deutschland und der Türkei seien in der Ukraine „gemeinsam vor Ort“, um den erwarteten ersten Getreide-Export zu beobachten. Der türkische Präsidialamtssprecher Ibrahim Kalin kündigte am Sonntag an, der erste Frachter werde an diesem Montag in See stechen.
Wie sich der neue deutsche Kurs in einer Krise bewährt, wird sich voraussichtlich bald zeigen. In den nächsten Tagen will Ankara nach längerer Pause wieder ein Erkundungsschiff für die Suche nach Erdgas ins Mittelmeer schicken. Vor zwei Jahren war der Streit um das Gas gefährlich eskaliert. Damals schaltete sich Merkel als Vermittlerin ein.