Bereits zum fünften Mal innerhalb von 43 Monaten wählen Israels Bürger an diesem Dienstag ein neues Parlament. Klare Verhältnisse dürfte es aber auch danach nicht geben. Die letzten Umfragen sagen ein Unentschieden zwischen den beiden Blöcken um Oppositionsführer Benjamin Netanjahu und den amtierenden Premier Jair Lapid voraus. „Wir wählen die nächste Übergangsregierung“, scherzt ein Analyst.
Netanjahu, der von 2009 bis 2021 an der Spitze der Regierung gestanden hatte, hofft auf ein Comeback. Es laufen zwar drei Prozesse gegen ihn, in denen er wegen Betrug, Bestechlichkeit und Untreue angeklagt ist und die noch mehr als ein Jahr dauern könnten. Solange er nicht rechtmäßig verurteilt ist, steht seinem Einzug ins Büro des Regierungschefs aber nichts im Weg - falls es ihm gelingt, eine Koalition zu zimmern.
„König Bibi" oder „Crime Minister"? Benjamin Netanjahu lässt niemanden kalt
Die Bevölkerung ist seit Jahren gespalten. Netanjahus Fans preisen ihn als „König Bibi“, dessen einziger Makel darin bestehe, seine politischen Gegner wahnsinnig zu machen, weil er der Beste sei. Die Modernisierung der israelischen Wirtschaft führen sie auf seine Politik zurück. Seine Gegner bezeichnen ihn hingegen wegen der Korruptionsprozesse als „Crime Minister“ und warnen vor den Bündnispartnern, denen er Ministerposten anvertrauen könnte, um mit ihrer Hilfe im Parlament eine Mehrheit zu haben.
An diesem Dienstag geht es nicht nur um die Frage, ob Netanjahu oder Lapid die nächste Regierung bilden wird, sondern auch um die Identität Israels als demokratischer Rechtsstaat schlechthin. Sollte Netanjahu eine Koalition bilden, würde Itamar Ben-Gvir eine Schlüsselrolle spielen. Die jüngsten Umfragen sagen seiner religiös-zionistischen Partei 13 oder 14 Sitze voraus, womit er die drittstärkste Partei in der Knesset wäre. Sollte Netanjahu mit Ben-Gvirs Unterstützung die Mehrheit erringen, wäre es die extremste Koalitionsregierung, die Israel je gekannt hat.
Itamar Ben-Gvir will Araber dazu bringen, das Land zu verlassen
Ben-Gvir möchte das israelische Justizsystem umgestalten, um Netanjahu aus den Klauen der Justiz zu befreien. Damit würde er die Unabhängigkeit der Justiz angreifen. Die Besetzung der palästinensischen Gebiete werde er weiter festigen, versprach er seinen Anhängern im Wahlkampf, zudem würde er ein „Auswanderungsbüro“ einrichten, um israelische Araber, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, zur Emigration anzuspornen.
Ben-Gvir, der sich Chancen ausrechnen kann, in der nächsten Koalition prominent vertreten zu sein, wurde in seiner Jugend von der Gedankenwelt des radikalen Rabbiners Meir Kahane geprägt, zu dessen Zielen ein Gottesstaat und eine Aussiedlung der Araber gehörten. Kahane, der zu Beginn der 80er Jahre aus den USA nach Israel emigriert war, wurde 1984 in die Knesset gewählt. Eine Wiederwahl scheiterte, weil ihn der Oberste Gerichtshof wegen seiner rassistischen Ansichten disqualifizierte.
Heute behauptet Ben-Gvir, sein Schwärmen für Kahane sei eine Jugendsünde gewesen. Aber, so warnt die Times of Israel, Ben-Gvir scheine „in einigen kritischen Fragen sogar noch extremere Positionen zu vertreten als die rechtsextremen Parteien, die Europa beunruhigen“. Er war aus der Armee ausgeschlossen worden, weil er wegen Terrors verurteilt worden war.
Der studierte Jurist Ben-Gvir zog im vergangenen Jahr erstmals auf einer gemeinsamen Liste mit den religiösen Zionisten in die Knesset ein. In den vergangenen Monaten wurde der Sohn einer kurdischen Immigrantin zum Senkrechtstarter in der israelischen Politik und konnte seinen Paria-Status ablegen. Nachdem Netanjahu den 46-Jährigen vor Kurzem noch als „ungeeignet für die Regierung“ bezeichnet hatte, hat er ihm inzwischen öffentlich einen Ministerposten versprochen, falls er eine Regierung bilden werde.
Kann Premier Jair Lapid noch einmal eine Koalition schmieden?
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht der sogenannte Anti-Netanjahu-Block, der laut Umfragen mit 56 Sitzen rechnen kann. Er wird von Lapid angeführt und von Mitte-Links-Parteien gestützt. Auf eine Mehrheit von 61 Sitzen im Parlament kann Lapid laut Umfragen aber nur hoffen, wenn ihn arabische Abgeordnete unterstützen.
Ausgeschlossen ist das nicht. Die Wahl findet etwas mehr als ein Jahr nach der Bildung eines Bündnisses zwischen dem Zentristen und derzeitigen Ministerpräsidenten Lapid, dem national-religiösen Naftali Bennett und dem arabischen israelischen Abgeordneten Mansour Abbas statt. Dessen „Vereinigte Arabische Liste“ unterstützte als erste unabhängige arabische Partei eine israelische Regierungskoalition. Damals wurde dieser Schritt als wegweisend für die künftigen arabisch-jüdischen Beziehungen gesehen und als Chance für die arabische Minderheit, in der israelischen Politik Einfluss zu nehmen und Gelder für ihre Anliegen sicherzustellen.
Sollten die beiden großen Blöcke in dem Neun-Millionen-Einwohner-Land eine absolute Mehrheit verfehlen, rechnen Beobachter mit einer monatelangen politischen Blockade - oder einer weiteren Neuwahl. Es wäre dann die sechste innerhalb von fünf Jahren. Ministerpräsident Jair Lapid würde dann vorerst als Premier im Amt bleiben.