„Wir stehen an der Schwelle zu einem großen Sieg“: Benjamin Netanjahu, Langzeit-Premierminister, der die vergangenen zwölf Monate als Oppositionsführer seine Rückkehr an die Macht vorangetrieben hatte und am frühen Mittwochmorgen kurz zu seinen Anhängern sprach, darf sich auf seine Rückkehr ins Büro des Regierungschef freuen. Er wird in den nächsten Wochen versuchen, mit Hardlinern eine Koalition zu bilden, mit denen er im Parlament nach vorläufigem Ergebnis 65 der insgesamt 120 Sitze beherrscht. Er werde die am weitesten rechts stehende und religiöseste Koalition bilden, die Israel je gekannt hat, hatte Netanjahu im Wahlkampf versprochen. Ins Bündnis werde er rechte und religiöse Parteien einladen. In der Koalition wäre Netanjahu dann erstmals der gemäßigte Politiker. In seinen früheren Allianzen hatte er sich stets mit liberalen Kräften umgeben.
Israel: Der Königsmacher ist ein radikaler Politiker
Als Königsmacher steht derzeit Itamar Ben-Gvir im Zentrum der anstehenden Koalitionsverhandlungen. Er ist Aushängeschild der drittstärksten Partei. Der umstrittene 46-jährige Jurist war in den vergangenen Jahren wiederholt Star-Anwalt von jüdisch-israelischen Attentätern. So verteidigte er zum Beispiel zwei der jugendlichen jüdisch-israelischen Terroristen, die angeklagt waren, in der Westbank-Stadt Duma ein Haus in Brand gesteckt zu haben, wobei drei Mitglieder der palästinensischen Familie ermordet wurden. Die Klientenliste seiner Kanzlei lese sich wie ein „Who is who“ derjenigen, die wegen Terrorakten und Hassverbrechen vor Gericht standen, schrieb einmal eine israelische Zeitung. Das kommt nicht von ungefähr: Ben-Gvir kann sich in die mutmaßlichen Täter einfühlen. Vom Armeedienst war er wegen seiner radikalen Ansichten ausgeschlossen worden und stand später mehrfach wegen des Vorwurfs „Terror“ vor Gericht. Seine Obsession für radikale Ansichten begann bereits in seiner Jugend. Ben-Gvir war Anhänger des aus den USA eingewanderten Rabbi Meir Kahane, der wegen rassistischer Ansichten sowohl in den USA als auch in Israel als Terrorist gebrandmarkt worden war.
Er habe sich gemäßigt, wiegelt Ben-Gvir ab. Und doch: Alle Palästinenser würde er aus den besetzten Gebieten vertreiben und für Araber mit israelischem Pass, die rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, würde er ein „Auswanderungsbüro“ einrichten, um sie zur Emigration zu ermuntern, stellte er im Wahlkampf in Aussicht.
Netanjahu will auch ultraorthodoxe Parteien einbeziehen
Netanjahu will in seiner Koalition neben Ben-Gvir auch ultraorthodoxe Parteien einbeziehen. Sie wollen den religiösen Charakter des jüdischen Staates ausbauen. So soll das Rabbinat, das von der Wiege bis zum Tod zuständig ist, die Reform- und liberalen Strömungen im Judentum zurückdrängen. Die Kompetenzen des Obersten Gerichtshofs sollen reduziert werden. Führende Likud-Mitglieder haben versprochen, das Justizsystem zu reformieren und die ihrer Meinung nach unverhältnismäßige Macht der Richter, die Autorität der gewählten Parlamentarier infrage zu stellen. Einige der vorgeschlagenen Justizreformgesetze könnten, wenn sie verabschiedet werden, entweder Netanjahu in seinem Rechtsstreit unterstützen oder das Verfahren gegen ihn ganz aufheben. Ben-Gvirs Erfolg führen Soziologen unter anderem darauf zurück, dass 70 bis 80 Prozent der jüdischen Israeli rechts wählen. Die Jungen seien gesellschafts- und außenpolitisch konservativer eingestellt als ihre Eltern und Großeltern. Gegenüber den Arabern hätten sie ein tief sitzendes Misstrauen.
Netanjahu war von 1996 bis 1999 Ministerpräsident, danach wieder durchgehend von 2009 bis 2021. Mit seiner Ablösung im vergangenen Jahr durch Naftali Bennett an der Spitze einer Acht-Parteien-Koalition hatte die Ära Netanjahu vorerst als beendet gegolten. Bennetts heterogene Koalition vom rechten bis zum linken Spektrum war im Juni nach inneren Streitigkeiten zerbrochen. Danach übernahm Außenminister Lapid den Posten des Regierungschefs. Lapid hatte gehofft, dass arabische Wähler das Comeback Netanjahus verhindern würden. Schließlich waren in der Regierung Bennett/Lapid auch religiöse muslimische Politiker vertreten. Doch diese Rechnung ging nicht auf.