Am Ende kommen ihr dann doch die Tränen. „Es war ein Albtraum“, sagt Talia Berman. „Schüsse, Schreie, Explosionen.“ Als die Terroristen der Hamas am 7. Oktober den Kibbuz Kfar Aza überfallen, können ihr Mann Doron und sie sich noch in den Schutzraum ihres Hauses retten. Ihre Zwillingssöhne Gali und Ziv jedoch, die gleich in der Nähe wohnten, sind seitdem verschwunden. Die beiden 26-Jährigen gehören zu den mehr als 130 Israelis, die die Hamas noch immer im Gazastreifen gefangen hält und über deren Schicksal auch ihre Familien nur spekulieren können. Sicher weiß Talia Berman nur eines: Einige der Geiseln, die im November freigelassen wurden, haben ihre Söhne damals gesehen. Lebend. Das, vor allem, macht der 61-jährigen Hoffnung. Hoffnung auf ein glückliches Ende.
Angehörige von Hamas-Geiseln: Ein Leben im Ausnahmezustand
An diesem Nachmittag sitzt Talia Berman in einem Nebenraum der Augsburger Synagoge, sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem Foto von Gali und Ziv, hat ein paar Aufnahmen des zerstörten Dorfes vor sich auf dem Tisch liegen, und erzählt von einem Leben im Ausnahmezustand. Nächtelang habe sie nicht geschlafen, tagelang nichts gegessen. Ihr schwer kranker Mann, der im Rollstuhl sitzt, habe jeden Lebensmut verloren und ins Krankenhaus gemusst, wo er fast gestorben wäre. Aufrecht halte ihn vor allem eines: „Er will seine Söhne noch einmal sehen.“ Die meisten Familien, die Opfer des Terrors wurden, vermissen einen Angehörigen. Bei den Bermans sind es gleich zwei. Zwei von vier Söhnen.
Nach Deutschland ist Talia mit ihrer Schwester Macabit und ihrem Sohn Idan gekommen, weil die Bermans deutsche Wurzeln haben und Gali und Ziv auch einen deutschen Pass. Sie spürt, dass die Aufmerksamkeit für das Schicksal der Entführten außerhalb Israels nachzulassen beginnt. „Deutschland ist ein so starkes Land“, sagt sie. Die Bundesregierung könne doch Druck auf ein Regime wie das in Katar ausüben, das schon im Herbst einen Geiselaustausch vermittelt hat. „Die Amerikaner haben ihre Leute damals aus Gaza herausbekommen“, betont sie. Und auch wenn sie es nicht so deutlich ausspricht, schwingt dabei unterschwellig auch der Vorwurf mit: Warum ist Euch Deutschen das noch nicht gelungen?
Kfar Aza: Aus einem Ort des Friedens wurde ein Ort des Mordens
Über Politik redet Talia Bermann nicht so gerne. „Ich bin nur eine Mutter, die ihre Kinder zurückhaben will“, sagt sie. Zwei Söhne, freundlich, hilfsbereit, fußballbegeistert und mit einem ausgeprägten Familiensinn. Mehr als 30 Jahre hat die Familie im Kibbuz Kfar Aza gelebt, direkt an der Grenze zum Gazastreifen gelegen und einer der ersten Schauplätze der Massaker vom 7. Oktober. Ob die Bermans je dorthin zurückkehren werden, ist ungewiss. Angeblich will die Regierung das Dorf in zwei, drei Jahren wieder aufbauen. Die Erinnerungen aber werden bleiben. „Aus einem Ort des Friedens“, sagt Talia Berman, „wurde ein Ort des Mordens, des Vergewaltigens und des Kidnappens.“
Unter den Geiseln, die die Hamas noch festhält, sind Soldaten und Zivilisten, Männer und Frauen, alte und chronisch kranke Menschen und wohl auch noch zwei Kinder: der vierjährige Ariel Bibas und sein Bruder Kfir, der im Alter von neun Monaten entführt und letzte Woche ein Jahr alt wurde – sofern er noch lebt. Die Hamas behauptet, die beiden Jungen seien zusammen mit ihrer Mutter bei einem israelischen Militärschlag ums Leben gekommen. Beweise dafür gibt es nicht, die israelische Armee spricht von psychologischer Kriegsführung.
Die Geiseln, die noch leben, harren unter elenden Bedingungen aus. Ein schmaler, verkachelter Raum, vielleicht zehn Quadratmeter groß, zwei Ventilatoren und ein Plastikstuhl: 20 Meter unter der Erde, haben Hamas-Terroristen nach Erkenntnissen der israelischen Armee zwischenzeitlich mehrere Geiseln festgehalten. „Wir haben fünf Käfigzellen gesehen, in denen unserer Einschätzung nach Geiseln gehalten wurden, ohne jedes Tageslicht, fast ohne Luft, mit einem Mangel an Sauerstoff und furchtbarer Feuchtigkeit“, betont ein Armeesprecher.
Angehörige von Geiseln sprengen eine Sitzung des israelischen Parlaments
In ihrer Verzweiflung greifen die Angehörigen der Geiseln zu immer neuen Mitteln. Einige von ihnen haben Zelte vor der Residenz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem aufgeschlagen und wollen bleiben, bis die Regierung sich mit der Hamas auf ein neues Abkommen zur Befreiung der Geiseln einigt. Am Montag sprengte eine Gruppe von Angehörigen eine Sitzung des Finanzausschusses in der Knesset, dem israelischen Parlament. Während Sicherheitsleute sie aus dem Raum zu zerren versuchten, schrien die Angehörigen ihren Frust und ihren Schmerz heraus. „Ihr werdet nicht hier herumsitzen, während unsere Kinder sterben!“, brüllte einer von ihnen. Der Knesset-Sender übertrug die Szenen live im Fernsehen. Bei einer Anhörung zum Thema sexueller Gewalt in Geiselhaft warnte eine frühere Geisel, viele Frauen könnten nach Vergewaltigungen inzwischen schwanger sein.
Netanjahu argumentiert, nur mit massivem militärischem Druck ließen sich die Geiseln befreien. Doch deren Angehörigen überzeugt er damit nicht. Und auch innerhalb der Regierung hat diese Lesart Kritiker. Dass die Geiseln mit militärischer Gewalt befreit werden könnten, sei höchst unwahrscheinlich, sagt der ehemalige Armeechef Gadi Eizenkot, der dem Kriegskabinett angehört. „Es ist unmöglich, die Geiseln in naher Zukunft ohne ein Abkommen nach Hause zu bringen.“ Dazu aber muss die Hamas mitspielen – und die macht einen Abzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen zur Bedingung.
Talia Berman, die Mutter von Gali und Ziv, ist nach den Anschlägen zu ihrer Schwester in einen nahegelegenen Kibbuz gezogen. An ihre Regierung hat sie nur einen Wunsch: „Beendet diesen Krieg und holt meine Söhne da raus. Wir warten auf sie.“