Gegen die Pläne der Koalitionsregierung von Benjamin Netanjahu regt sich seit acht Wochen massiver Widerstand. Die außenpolitische Opposition geht nicht wegen eines parteipolitischen Streits auf die Straße, sondern um die demokratische und liberale Seele des Staates Israel zu retten. Unermüdlich skandieren die Demonstranten das Wort „Demokratie“ – als ob sie sie beschwören wollten.
Die Bürgerinnen und Bürger, denen die Geschwindigkeit Angst macht, mit der die Regierung ihre Macht ausweiten will, werden von prominenten Zeitgenossen unterstützt. Der weltbekannte Bestsellerautor Yuval Noah Harari spricht von einem „antidemokratischen Coup“, der ehemalige Premierminister Ehud Barak ruft zum gewaltfreien zivilen Ungehorsam auf und geht mit den Demonstranten auf die Straße, altgediente Elitesoldaten und Reservisten drohen mit Dienstverweigerung, frühere Zentralbankchefs warnen vor den Folgen für die Wirtschaft, Unternehmer transferieren Kapital ins Ausland, führende Hightechfirmen verschieben ihre Investitionspläne. Eine Gruppe von hunderten israelischer Wirtschaftswissenschaftler warnte am Donnerstag davor, dass ein finanzieller Zusammenbruch wegen der Umgestaltung der Justiz noch „stärker und schneller“ eintreten könnte, als sie vorausgesagt hatten.
Scharfe Kritik kommt auch von mit Israel befreundeten Staaten
Scharfe Kritik gibt es auch aus dem Ausland. So habe sich der deutsche Justizminister Marco Buschmann in der vergangenen Woche beim Treffen mit seinem israelischen Amtskollegen Yariv Levin „besorgt“ über die Bemühungen der israelischen Regierung gezeigt, den Obersten Gerichtshof zu schwächen, berichteten israelische Medien. Auch der ehemalige US-Botschafter in Jerusalem, David Friedman, hat sich in die lange Liste der Kritiker eingereiht. Friedman, der zu den eifrigsten Unterstützern von Regierungschef Benjamin Netanjahu in der US-republikanischen Partei gehört, warnte an einer öffentlichen Veranstaltung davor, der Knesset die Möglichkeit zu geben, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs außer Kraft zu setzen. Entfernt sich Israel von liberalen Werten, dürfte die Unterstützung der USA, dem wichtigsten Bündnispartner Israels, erodieren. US-Präsident Joe Biden hat das bereits signalisiert.
Doch Israels Regierung bleibt stur. Beobachter in Tel Aviv schreiben das der persönlichen Motivation Netanjahus zu. Er kämpft vor Gericht gegen Korruptionsvorwürfe. Sollte er verurteilt werden, könnte ihn die Schwächung des Obersten Gerichtshofs vor einer Haftstrafe retten. Mit einer einfachen Mehrheit könnte das Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs überstimmen. Zudem soll die Regierung ein entscheidendes Mitspracherecht bei der Ernennung von Richtern erhalten. Das Oberste Gericht soll weitgehend entmachtet werden, wenn die Regierung ihr Vorhaben durchsetzen kann. Weil Israel keine Verfassung hat, wäre die damit verbundene Abschaffung der Gewaltenteilung besonders brisant.
Netanjahu verteidigt seine „Reform“, die eigentlich eine Revolution ist, damit, dass sie demokratisch legitimiert ist – schließlich sei die Koalition das Ergebnis von Wahlen. Er übersieht dabei allerdings, dass zu einer liberalen Demokratie auch der Respekt von Minderheiten gehört. Gerade in Israel ist das besonders wichtig. So sind rund 20 Prozent der Bürger Araber. Kann der Staat ihre Rechte nicht schützen, könnte die Stabilität Israels gefährdet sein.
Netanjahu ist abhängig von rechtsradikalen Fanatikern
Der Ministerpräsident ist zwar ein liberaler Politiker, wie er früher als Finanzminister bewiesen hat. Aber jetzt ist er abhängig von seinen radikalen Koalitionspartnern. Minister aus dem rechtsradikalen Spektrum stoßen bei ihm mit ihren Forderungen wie der Einführung der Todesstrafe für Terroristen deshalb nicht auf Widerstand. Auch kann Finanzminister Bezalel Smotrich unwidersprochen fordern, dass das palästinensische Dorf Huwara, das neulich Schauplatz eines beispiellosen Siedlerangriffs nach der Ermordung von zwei israelischen Siedlern war, „ausgelöscht“ werden solle. Netanjahu ließ die Ungeheuerlichkeit der Aussage seines Koalitionspartners nicht nur stehen, sondern gab ihm indirekt auch recht: Er verglich das Pogrom in Huwara mit den Demonstrationen in Tel Aviv: „Wir akzeptieren keine Gewalt in Huwara und wir akzeptieren keine Gewalt in Tel Aviv“, sagte er. Damit stellte Netanjahu jene Bürger, die für die Demokratie kämpfen, mit Anarchisten, die Häuser in Huwara anzündeten, auf dieselbe Stufe.