Frappierender kann ein Kontrast nicht sein: Dort die schrecklichen Bilder des Terrorangriffs der Hamas auf Israelis in der Grenzregion zu Gaza, hier in Berlin-Neukölln Videos junger Männer und Frauen, die Morde bejubeln und antisemitische Parolen skandieren. Sequenzen, die seit Tagen nachwirken.
Angesichts der Szenen in Berlin oder Duisburg und massenhaft hämischer, ja triumphierender Kommentare in den sozialen Medien zu den Gewaltorgien in Israel drängt sich eine Frage auf: Wie weit verbreitet sind Antisemitismus und militante Israelfeindlichkeit unter Muslimen in Deutschland? „In Neukölln waren es nur ein paar Dutzend, doch das Gedankengut ist längst in Tausende Köpfe gesät“, sagte die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri in ihrem eindringlichen Kommentar in den ARD-Tagesthemen, um im gleichen Atemzug die Tatenlosigkeit der deutschen Politik zu beklagen.
Islamwissenschaftler fordern, den arabisch-türkischen Antisemitismus nicht länger kleinzureden
In dieselbe Richtung geht ein offener Brief renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit dem Islam befassen. Die Experten fordern die Politik auf, das wachsende Problem eines arabisch-türkischen Antisemitismus nicht länger kleinzureden. Zu den Unterzeichnern gehören der Migrationsforscher Ruud Koopmans, die Islamwissenschaftlerinnen Susanne Schröter und Christine Schirrmacher sowie der Psychologe und Autor Ahmad Mansour. Auslöser für die Wortmeldung waren die Attacken der Hamas und die Reaktionen darauf, aber auch die Unzufriedenheit damit, dass die Politik auf Warnungen der Wissenschaftler meist halbherzig und relativierend reagiert.
Das hat sich jetzt angesichts der aktuellen Ereignisse schlagartig geändert. Politiker aller Couleur überbieten sich mit Forderungen nach harten Konsequenzen. Ahmad Mansour war nicht überrascht von den Jubelszenen in Neukölln und anderswo: „Das war mir absolut klar. Ich kenne dieses Gedankengut von Jugendlichen aus meiner täglichen Arbeit. Ich habe beobachtet, was in den sozialen Medien in den letzten zwei Jahren an Propaganda, an Emotionalisierung und einseitiger Darstellung zu finden ist“, sagt der deutsch-israelische Muslim im Gespräch mit unserer Redaktion.
Das bedeute keinesfalls, dass man die rund 4,5 Millionen Muslime und Muslimas in Deutschland in einen Topf werfen solle, sagt Mansour. „Es gibt darunter viele, die für einen aufgeklärten Islam sind und den Terror der Hamas verurteilen“, erklärt er. Studien hätten ergeben, dass der Anteil von Deutschen mit antisemitischen Tendenzen ohne Migrationshintergrund bei bis zu 20 Prozent liege, bei Muslimen betrage er bis zu 40 Prozent. Die darin enthaltene Quote von Männern und Frauen mit antisemitisch gefärbten Ansichten ist dabei weit größer als der Anteil von Personen mit einem geschlossen antisemitischen Weltbild.
Gerade unter türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen in Teilen von Berlin-Neukölln, aber auch in anderen Städten hat sich längst eine anti-israelische Stimmung verfestigt. Wer in diesen Kreisen offen eine andere Ansicht vertritt, begibt sich mitunter in Gefahr. Das gilt nicht nur für Juden mit Kippa. „Ich kann nicht ohne Personenschutz nach Neukölln“, sagt der Muslim Mansour. Umso wichtiger sei es, endlich vor allem an den Schulen mit Bildung und Sozialarbeit gegenzusteuern. Mansour: „Über das Thema muss mehr gesprochen werden, und zwar im Alltag, wenn die Jugendlichen nicht so emotionalisiert mit dem Thema umgehen.“
Hart ins Gericht gehen die Verfasser mit muslimischen Verbänden in Deutschland
Hart ins Gericht gehen die Verfasser des offenen Briefs mit den größeren muslimischen Verbänden in Deutschland - darunter die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), die Islamische Gemeinschaft Millî Görüs oder der Zentralrat der Muslime (ZDM). Tatsächlich fehlen eindeutige Verurteilungen der Gräueltaten der Hamas in Israel fast durchgehend. Die Experten fordern von den Organisationen „klare Haltung gegen Terrorismus“ und ein „klares Bekenntnis zum Existenzrecht Israels“.
Doch davon kann nicht die Rede sein. „Die Relativierung der Verbrechen ist zum Schämen. Viele Verbände werden aus dem Ausland gesteuert, sie teilen nicht unseren demokratischen Wertekanon. Das Problem ist, dass Israelfeindlichkeit eines ihrer grundlegenden Themen ist, mit denen sie Jugendliche muslimischer Herkunft erreichen“, sagt Mansour, der kritisiert, dass deutsche Politiker noch immer in einigen dieser Verbände Ansprechpartner sehen würden, ohne zu wissen, was dort intern verbreitet wird.
Mansour: Rechtliche Möglichkeiten ausschöpfen
Mansour fordert zudem, dass die bereits bestehenden rechtlichen Möglichkeiten, die Fanatiker zu stoppen, ausgeschöpft werden müssen. Die Rechtsprechung der letzten Jahre hat immerhin gezeigt, dass man Versammlungen durchaus verbieten oder unterbinden kann, wenn zu Hass und Gewalt aufgerufen wird. Auch genaue Überprüfungen und Verbote von israelfeindlichen Netzwerken wie der palästinensischen Organisation Samidoun, deren Mitglieder jetzt in Neukölln den Massenmord an Juden feierten, hält Ahmad Mansour für überfällig.