Kompromisslos, unerschrocken, erfolgreich. Hätte Iryna Wereschtschuk einen Haarkranz, könnte sie ohne Weiteres als „Julia Timoschenko 2.0“ durchgehen. Wie die frühere Regierungschefin, so wirkt auch Wereschtschuk in der männerdominierten Kiewer Politik auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper.
Bei näherem Hinsehen jedoch entpuppt sich die 42-Jährige als personifizierte Kampfansage an alle, die meinen, den tapferen Verteidigungskrieg des ukrainischen Volkes als reine Männersaga erzählen zu müssen. Es passt ja auch alles zu gut ins Klischee: Hier das ultimative Alphatier Wladimir Putin mit seiner vor Testosteron strotzenden Aggressivität. Dort der junge Held Wolodymyr Selenskyj, unterstützt vom Ex-Boxer Vitali Klitschko. Zwei ukrainische Underdogs im todesmutigen Kampf gegen die russische Unterdrückungsmaschine. Während die Frauen mit den Kindern aus dem Land fliehen.
Aber dann ist da Wereschtschuk. Die Vize-Regierungschefin ist die Person, die am sichtbarsten dafür einsteht, dass die ukrainische Wirklichkeit komplexer ist. Dass man zum Beispiel an den EU-Grenzen immer wieder auf Frauen trifft, die ihre Kinder in Sicherheit bringen und dann zurückkehren in die Heimat. Um an der Front zu kämpfen oder im Hinterland zu helfen.
Fünf Jahre war Iryna Wereschtschuk Offizierin
Wereschtschuk leistet ihren Dienst im belagerten Kiew, wo sie täglich vor die Mikrofone tritt. Meist berichtet sie dann über verzweifelte Versuche, humanitäre Korridore einzurichten, die aus dem apokalyptisch zerbombten Mariupol hinausführen. Oder aus dem umkämpften Charkiw. Dazu passt die Militärkleidung, die sie seit Kriegsbeginn trägt. Oder zumindest ein khakifarbenes T-Shirt. So wie Selenskyj, nur dass die Vize-Regierungschefin tatsächlich aus der Armee stammt, während der Präsident einst Schauspieler war.
Fünf Jahre hat Wereschtschuk als Offizierin gedient, nach dem Studium am Militärinstitut im westukrainischen Lwiw. Sie war Spezialistin für internationale Kommunikation. Man merkt es ihr bis heute an. Schon vor der russischen Invasion war sie immer wieder an der Front im Donbass unterwegs und gab Interviews für CNN oder die BBC. Das hatte auch etwas mit ihrem Ressort zu tun. In der Regierung ist sie für die „Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete“ zuständig. Im Klartext heißt das: Wereschtschuk soll dafür sorgen, dass die prorussischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk wieder ukrainisch werden. Und das gilt auch für die von Moskau annektierte Halbinsel Krim. Faktisch ist Wereschtschuk also Rückeroberungsministerin.
Sie steht damit für alles, was Putin zur Weißglut treibt. Das ist umso erstaunlicher, als die 42-Jährige den russischen Präsidenten sogar einmal in hohen Tönen gelobt hat. „Wenn wir einen Politiker wie Putin hätten, würde ich ihn wählen“, sagte sie 2013. Das war im Jahr vor der Krim-Annexion, und es hatte wohl vor allem mit einer gewissen Lust an der Provokation zu tun. Wereschtschuk war damals, nach ihrer Zeit beim Militär und einem zusätzlichen Jurastudium, die jüngste Bürgermeisterin der Ukraine. Mit nur 30 Jahren übernahm sie 2010 die politische Führung in ihrer Geburtsstadt Rawa-Ruska, hart an der Grenze zu Polen. Dort, im Westen der Ukraine, sind von jeher nationalistische Kräfte stark. Und genau mit diesen Gruppen legte sich Wereschtschuk an. Die Bürgermeisterin setzte auf föderale Strukturen und orientierte sich nach Polen. Beides gefiel den Rechten nicht.
Einst lobte Iryna Wereschtschuk Wladimir Putin
Fünf Jahre lang trotzte Wereschtschuk allen Drohungen und offener Gewalt. Dabei half ihr auch ihr zweiter Mann, der in Lwiw die Sondereinheit „Alpha“ des Geheimdienstes SBU leitete. Dann zog das Ehepaar nach Kiew, gemeinsam mit dem Sohn Oleg aus Wereschtschuks erster Ehe und einem Stiefsohn.
Für ihr Putin-Lob entschuldigte sich die streitlustige Politikerin später vor laufenden Kameras. Genauer gesagt war dies der Auftritt, der Wereschtschuk 2019 den Wiedereinstieg in die Politik ermöglichte, nach einigen Jahren, in denen sie an der Universität unterrichtet hatte. Wereschtschuk schloss sich Selenskyj und seiner Bewegung „Diener des Volkes“ an. Verwaltungswissenschaften waren am Ende doch nicht die große Leidenschaft jener Frau, die nur wenige Stunden nach Kriegsbeginn am 24. Februar erklärte: „Wir brauchen nur eine Flugverbotszone und Waffen. Den Rest erledigen wir selbst.“
Mit einer „No-Fly-Zone“ der Nato ist es bis heute nichts geworden. Aber Waffen hat die ukrainische Armee bekommen. Und nun ist sie dabei, im Krieg gegen Putins Russland „den Rest zu erledigen“. Nicht zuletzt dank Iryna Wereschtschuk.