Das iranische Regime befürchtet ein Jahr nach Ausbruch landesweiter Demonstrationen neue Unruhen und will deshalb die Protestbewegung einschüchtern. Menschenrechtler berichten von Festnahmen, Durchsuchungen und Verhören. Das Parlament in Teheran berät in einem Geheimverfahren über ein neues Kopftuch-Gesetz, das bis zu zehn Jahre Haft für Frauen vorsieht, die in der Öffentlichkeit ihre Haare nicht vollständig verhüllen. Trotz des Drucks rufen Regimegegner zu neuen Protesten gegen die Islamische Republik auf.
Am 16. September jährt sich der Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini, die in Teheran von der Religionspolizei wegen eines angeblich zu locker gebundenen Kopftuchs festgenommen wurde und in der Haft starb. Aminis Schicksal schockte Millionen Iranerinnen und Iraner. Sie gingen gegen die Mullah-Regierung auf die Straße, um mehr Freiheit und Demokratie zu fordern. Es waren die heftigsten Proteste gegen das theokratische System seit Jahrzehnten.
Das iranische Regime reagierte mit blutiger Gewalt auf die Proteste
Das Regime reagierte mit Gewalt: Rund 500 Menschen wurden bei Straßenschlachten getötet, Tausende wurden festgenommen, sieben Demonstranten hingerichtet. Gegen Ende des Jahres flauten die Straßenproteste ab. Der nahende Jahrestag von Aminis Tod am 16. September 2022 könnte der Protestbewegung neuen Schwung geben.
Das Regime wolle „mit maximalem Druck auf friedliche Dissidenten“ neue Proteste verhindern, berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Innerhalb weniger Wochen seien 22 Aktivistinnen und Aktivisten festgenommen worden, teilte die Exilgruppe Iran Human Rights mit. Studenten werden verwarnt, Angehörige von Aktivisten kommen in Haft. Amnesty International meldet, Verwandte von Opfern der Polizeigewalt des vergangenen Jahres würden inhaftiert und daran gehindert, die Gräber ihrer Angehörigen zu besuchen.
Unverhüllten Frauen drohen drakonische Strafen von mindestens fünf Jahren Haft
Auch das geplante Verhüllungsgesetz gehört zu den Vorbereitungen des Regimes auf den Jahrestag. Die Novelle wird in nicht öffentlichen Beratungen diskutiert und sieht nach Medienberichten vor, dass Frauen ohne korrekt gebundenes Kopftuch zu mindestens fünf Jahre Haft verurteilt werden sollen. Unternehmer, die in ihren Läden oder Betrieben Frauen ohne Kopftuch dulden, riskieren nach der Vorlage künftig eine Geldstrafe von bis zu einem Viertel ihrer Jahreseinnahmen. Zudem setzen die Behörden verstärkt auf den Einsatz von Überwachungskameras, um Frauen ohne Kopftuch bestrafen zu können.
Das iranische Regime betrachtet das Kopftuchgebot als Kernbestandteil der Islamischen Republik. Eine Abschaffung der Kopftuchpflicht wäre für Revolutionsführer Ali Khamenei und Präsident Ebrahim Raisi Verrat an der islamischen Revolution von 1979 und kommt deshalb nicht infrage. „Die aktuellen Maßnahmen der iranischen Behörden sind besorgniserregend und lassen auf eine systematische Einschüchterung der Protestbewegung im Vorfeld des 16. Septembers schließen“, sagt Amin Riahi, ein in Deutschland lebender Menschenrechtsaktivist, der die Spannungen zwischen dem Regime und der Protestbewegung im Iran verfolgt. „Städteübergreifend beobachten wir eine Zunahme der Verhaftungen von Aktivisten“, sagte Riahi unserem Korrespondenten. Er verwies darauf, dass der iranische Geheimdienstminister Esmaeil Khatib die Mitglieder der Protestbewegung als „Feinde“ bezeichnet habe. Diese Wortwahl „ist nicht nur eine klare Drohung, sondern auch ein Indikator für die eskalierende Spannung im Land“.
Das Regime sieht sich durch außenpolitische Erfolge gestärkt
Das Regime sehe sich durch außenpolitische Erfolge in seinem Kurs bestärkt, meint Riahi. Der Iran hat eine Wiederannäherung an Saudi-Arabien eingeleitet und sich mit den USA auf einen Häftlingsaustausch geeinigt, der Teheran den Zugriff auf mindestens sechs Milliarden Dollar an bisher eingefrorenen Auslandsguthaben einräumt. Diese Entwicklungen ermutigten das Regime, „die Protestbewegung mit noch größerer Intensität zu unterdrücken“, sagte Riahi.
Aufgeben wollen die Regimegegner aber nicht. Faeseh Haschemi, eine Tochter des früheren iranischen Präsidenten Ali Akbar Haschemi-Rafsandschani und scharfe Kritikerin der Mullah-Regierung, die seit 2022 im Gefängnis sitzt, rief die Iraner aus ihrer Zelle heraus zum Widerstand auf. Mit zivilem Ungehorsam könne das Regime unter Druck gesetzt werden, schrieb Haschemi nach einem Bericht des Oppositionssenders Iran International in einem Brief aus der Haft.
Tausende Iraner und Iranerinnen in großen Städten tragen ihren Protest gegen das Regime schon jetzt jeden Tag auf die Straße: Trotz Strafandrohung zeigen sie sich mit offenen Haaren in der Öffentlichkeit. Auf diese Weise erlebten die iranischen Kleriker „die Niederlage ihrer Ideologie auf offener Straße“, kommentierte die Aktivistin Masih Alinejad.