Die Bilder gleichen sich seit vielen Jahren: Der vollbärtige Ayatollah spricht auf einem Sessel sitzend zu seinem Volk – vor oder neben ihm ein kleines Tischchen mit spärlichen Unterlagen, hinter ihm ein Porträt des legendären Führers der islamischen Revolution von 1979 und späteren Staatschefs Ayatollah Ali Khomeini. Doch die Auftritte von Staatsoberhaupt Ali Chamenei haben sich verlangsamt, seine Mimik hat an Beweglichkeit verloren, sein Winken wirkt müde. Dass der 85-Jährige mit gesundheitlichen Problemen kämpft, ist ein offenes Geheimnis in der Islamischen Republik. Und so wird weltweit – im Iran allerdings meist hinter vorgehaltener Hand – spekuliert, wie es weitergeht, wenn Chameneis Zeit auf Erden abgelaufen ist.
Trotz der Spuren des fortgeschrittenen Alters, Chameneis Machtfülle ist nach wie vor groß. An dem Mann, der unter anderem Oberbefehlshaber der iranischen Streitkräfte ist, kommt niemand vorbei. Auch für den Hagel aus Drohnen und Raketen, der Mitte Februar aus dem Iran auf Israel prasselte, dürfte er den Befehl gegeben haben.
Iran: Auch die Massenproteste konnten Chameneis Stellung nicht gefährden
Letztlich konnten auch die regelmäßig wiederkehrenden Massenproteste gegen den theokratischen Staat die Stellung Chameneis nicht gefährden. Den Herrschenden ist es immer wieder gelungen, ein Auseinanderbrechen der Machtstrukturen zu verhindern und die Protestwellen mit Drohungen, Festnahmen und Gewalt zu brechen. Was hält das Regime zusammen? Einmal die Schicht, die sich mit der Diktatur arrangiert hat und gut in ihr lebt. Dann die gefürchteten Revolutionsgarden, die sich längst von einer reinen Miliz zu einem politischen und vor allem wirtschaftlichen Faktor mit eigenen Konzernen entwickelt haben. Die Garden dürften ein gewichtiges Wort mitreden, wenn es um die Nachfolge des greisen Staatsoberhaupts gehen wird.
Chamenei versucht akribisch, sein politisches Erbe zu Lebzeiten in seinem Sinne zu regeln. Dabei stützt er sich nicht zuletzt auf den Expertenrat aus 88 Ayatollahs und weiteren Geistlichen – die meisten davon älter als 75 Jahre. Das Gremium hat weit mehr Macht als das reguläre Parlament. „Gewählt“ werden sie für acht Jahre, die Führung sorgt dafür, dass es nur regimetreue Protagonisten auf die Liste schaffen. Wer, wie beispielsweise der frühere Präsident Hassan Rohani, in Ungnade fällt, darf nicht mehr für den Expertenrat kandidieren. So entstand eine komplett in sich geschlossene Instanz, die im Falle des Todes Chameneis über seinen Nachfolger entscheiden wird. Für liberale Iraner ist es ein Horrorszenario, dass der Lieblingssohn des Theokraten, Mojtaba Chamenei, am Ende zum Zuge kommt. Er gilt als mindestens ebenso radikal wie sein Vater.
Von dieser Seite her ist also kaum zu erwarten, dass sich das Regime öffnet. Allerdings droht das System im Inneren zu korrodieren. Das hängt auch damit zusammen, dass Religion als gesellschaftlicher Kitt an Bedeutung verliert. Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur sagte im Gespräch mit unsrer Redaktion: „Die Theokratie hat den Menschen im Iran den Islam ausgetrieben. Nur noch 30 Prozent bezeichnen sich als Muslime oder Musliminnen.“ Alarmierend für die Mullahs müsste auch die geringe Beteiligung an den Parlamentswahlen sein. Staatliche Stellen räumen ein, dass bei der zweiten Wahlrunde am 10. Mai weniger als 40 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimmen abgegeben haben – in den Großstädten noch weit weniger. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich Staat und weite Teile der Gesellschaft auf Kollisionskurs befinden.
Das iranische Staatsoberhaupt kämpft unbeirrt gegen „satanische“ Feinde
Ein Umstand, der Ayatollah Chamenei, der seit 35 Jahren die Macht in seinen Händen hält, offensichtlich nicht tangiert. Das faktische Staatsoberhaupt kämpft unbeirrt gegen zwei „satanische“ Feinde: das liberale westliche Gesellschaftsmodell und den Staat Israel. Hinzu kommt ein eherner Grundsatz der Theokratie. Der Chef des Onlinemagazins Iran Journal, Farhad Payar, brachte es gegenüber unserer Redaktion auf den Punkt: „Für den Religionsführer Ali Chamenei hat der Machterhalt oberste Priorität – im Zweifel noch vor dem erklärten Ziel der Hardliner, die islamische Revolution ins Ausland zu exportieren.“ Tatsächlich hat das Regime bisher immer die letzte Umdrehung der Eskalationsschraube vermieden. Auch die beispiellose Attacke auf Israel am 13. April war ganz bewusst so angelegt, dass der Schaden überschaubar blieb.
Ein auf eigene Rechnung angezettelter offener Krieg gegen Israel – und damit in der Folge auch gegen die USA – wäre „für das Regime in Teheran Selbstmord“, wie Payar, der im Iran geboren und aufgewachsen ist, es formuliert. Doch ein Thema könnte dazu führen, dass die in weiten Kreisen der Bevölkerung verhasste theokratische Diktatur kollabiert. Sollte der Iran seinen Weg zu einer Nuklearmacht konsequent weitergehen, könnte sich Israel gezwungen sehen, die Islamische Republik und mit Unterstützung der USA präventiv militärisch zu attackieren. Dann allerdings droht eine ganze Region in Flammen aufzugehen.