Herr Schuster, wie hat sich Ihr Leben seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober verändert?
Josef Schuster: Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, dann sage ich: gesundheitlich gut, aber … Die Situation in Israel bedrückt mich. Ich habe Verwandtschaft dort, einen Cousin und eine Cousine mit ihren Familien. Ich spüre auch in der jüdischen Gemeinschaft hierzulande starke Verunsicherung.
Wie haben Sie am 7. Oktober von dem Angriff der Hamas erfahren?
Schuster: Es war ein Samstag, der jüdische Schabbat. Ich war vormittags in der Synagoge. Zu Hause habe ich dann von dem Attentat auf Israel erfahren.
War Ihnen gleich bewusst, was das bedeutet?
Schuster: Nein, zu diesem Zeitpunkt nicht. Attentate sind leider nicht so außergewöhnlich in Israel. Der Umfang dieses Terroranschlags aber, der zeichnete sich erst im Lauf der folgenden Stunden ab.
Als Sie die Dimension kannten, war Ihnen klar, was passieren würde in den nächsten Wochen?
Schuster: Es war so, wie man es erwarten konnte. In den ersten Stunden gab es sehr viele Erklärungen und positive Signale pro Israel – fast einhellig, mal abgesehen von der Sonnenallee in Berlin. Viele von uns haben aber befürchtet, dass sich die Haltung wandelt, weil Israel nicht tatenlos zuschauen konnte. Schlimm genug, dass 1200 Menschen barbarisch ermordet wurden. Hinzu kommt, dass die Hamas über 200 Menschen in Geiselhaft genommen hat.
Haben Sie erwartet, dass dieser Krieg auch Konsequenzen für das Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschland haben würde?
Schuster: In diesem Ausmaß vielleicht nicht. Aber dass es Konsequenzen gibt, war den meisten klar. Das gab es früher schon bei militärischen Auseinandersetzungen in Nahost. Auch da sind pro-palästinensische Demonstrationen aus dem Ruder gelaufen. Ich will kein Missverständnis aufkommen lassen: Ich habe absolut Verständnis, wenn Menschen für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen oder in Palästina auf die Straße gehen. Da kann man Empathie haben. Problematisch sind die Begleiterscheinungen: Wenn dabei antisemitische Parolen gerufen werden, wenn völlig außer Acht gelassen wird, dass die Hamas im Gazastreifen ganz bewusst ihre Basis in Krankenhäusern oder Moscheen eingerichtet hat und billigend in Kauf nimmt, dass die Zivilbevölkerung von der militärischen Auseinandersetzung tangiert wird.
Sie haben relativ bald festgestellt, dass die Solidarität mit Jüdinnen und Juden bröckelt. Welche Unterstützung spüren Sie heute, welche vermissen Sie?
Schuster: Die Zahl an wohlmeinenden, unterstützenden Mails und Zuschriften ist deutlich größer als bei vorherigen Konflikten. Auch die klare Rückendeckung seitens der Politik finde ich sehr positiv. Die Solidaritätsrede von Vizekanzler Habeck, die war ein echtes Highlight. Ich hätte sie in dieser Deutlichkeit nicht erwartet. Gefreut hat mich auch, dass sich hier in Würzburg 250 Menschen zu einer Pro-Israel-Kundgebung versammelt haben.
Aber es gibt auch negative Reaktionen.
Schuster: Ja, es gibt deutlich mehr antisemitische Äußerungen auf deutschen Straßen als früher. Es gibt Hakenkreuz-Schmierereien an Häusern, in denen jüdische Familien leben – auch Davidsterne in der NS-Logik –, in jüdischen Geschäften werden Scheiben eingeschlagen. Und es gibt judenfeindliche Hetze im Internet. Es ist so einfach, Hassmails anonym zu verschicken.
Aus welcher Ecke vermissen Sie Unterstützung?
Schuster: In der Kulturszene vernehme ich vielfach ein dröhnendes Schweigen. Zwar hat sich der deutsche Kulturrat eindeutig positioniert. Insgesamt hört man seitens der Kulturinstitutionen und der Kunstschaffenden aber sehr wenig. Auch viele Universitäten sind ein Ort der Relativierung des Terrors geworden. Der Kulturbereich lässt sich politisch eher links einordnen. Und in diesem Milieu gibt es seit Längerem schon einen Israel-bezogenen Antisemitismus, der jetzt auch keinen Halt macht. Das gilt auch für bestimmte akademische Milieus. Vermisst habe ich auch Statements seitens der muslimischen Verbände. Da wurde lange geschwiegen.
Wenige Tage vor dem Überfall auf Israel haben Sie gesagt, Sie halten den Antisemitismus von rechts für gefährlicher als den von muslimischer Seite. Hat sich an Ihrer Einschätzung etwas geändert?
Schuster: Im Prinzip nicht, nur, dass sich der im Moment im Blickpunkt stehende, muslimisch geprägte Antisemitismus wohl der Gefahr des Rechtsextremismus annähert. Für die Demokratie in Deutschland ist der islamistische und der rechtsextreme Antisemitismus gefährlich. Antisemitismus ist immer schlimm. Aber es ist infam, wenn die AfD jetzt sagt, nicht wir sind antisemitisch, das sind die anderen. Da sollten die Vertreter der Partei lieber mal in den Spiegel gucken.
Die AfD positioniert sich auffallend Israel-freundlich. Aber Sie nehmen das der Partei nicht ab?
Schuster: Die Aussagen zum Antisemitismus nehme ich ihr nicht ab. Es geht der AfD nur um negative Aussagen zu Migranten. Die These der AfD ist: Der Feind meines Feindes sei mein Freund.
Sind schärfere Gesetze nötig?
Schuster: Kürzlich hat die Justizministerkonferenz in Berlin darüber diskutiert, die Leugnung des Existenzrechts Israels als Straftatbestand einzuführen. Die unionsgeführten Länder hatten, angeführt von Bayern, Berlin und Hessen, den Antrag eingebracht. Die SPD-geführten Länder waren nicht dagegen, aber sie wollen erst mal die Situation weiter beobachten - und dann entscheiden. Diese Position hat mich enttäuscht. Es heißt ja „Nie wieder ist jetzt“ und nicht irgendwann.
Gibt es etwas, dass Sie zuversichtlich stimmt in diesen Tagen?
Schuster: Wir haben vor vier Wochen die Einweihung einer neuen Synagoge in Dessau gefeiert, demnächst wird die neue Synagoge in Magdeburg eingeweiht. Es gibt eine positive Entwicklung von jüdischem Leben in Deutschland. Das erfüllt mich schon mit Zuversicht. Es gibt im Judentum diesen Begriff, dieses Gefühl „Jetzt erst recht“. Ich glaube, diejenigen, die versuchen, jüdisches Leben aus Deutschland zu vertreiben, werden keinen Erfolg haben.
Zur Person: Josef Schuster ist seit November 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der 69-jährige Internist aus Würzburg ist auch Mitglied des Deutschen Ethikrats.