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Interview: "Wo ist Annalena Baerbock, wenn es um Hilfe für afghanische Mädchen und Frauen geht?" 

Interview

"Wo ist Annalena Baerbock, wenn es um Hilfe für afghanische Mädchen und Frauen geht?" 

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    Reinhard Erös, Gründer der Kinderhilfe Afghanistan, mit einem afghanischen Mädchen, das eine der vielen Schulen der Hilfsorganisation besucht.
    Reinhard Erös, Gründer der Kinderhilfe Afghanistan, mit einem afghanischen Mädchen, das eine der vielen Schulen der Hilfsorganisation besucht. Foto: Kinderhilfe Afghanistan

    Herr Erös, Anfang Oktober erschütterte ein schweres Erdbeben mit Hunderten von Todesopfern den Westen Afghanistans. Die Kinderhilfe Afghanistan hat Hilfsprojekte organisiert. Wie ist die Situation heute?

    Reinhard Erös: Viele Familien in der Provinz Herat haben ihre einfachen Häuser, oft sind es Lehmhütten, wieder aufgebaut. Dabei helfen afghanische Nichtregierungsorganisationen, aber auch das Taliban-Regime in Kabul. Wir stellen Familien, die noch kein Obdach haben, Zelte, Decken, Nahrung und medizinische Versorgung zur Verfügung. 

    Viele westliche Hilfsorganisationen haben sich aus dem Land zurückgezogen. Haben Sie dafür Verständnis?

    Erös: Nein. Ganz im Gegenteil. Wenn sich die Organisationen nicht direkt mit den Taliban anlegen, dann haben sie in Afghanistan nichts zu befürchten. Die Taliban hoffen, dass die NGOs zurück ins Land kommen.

    Es gab Kritik aus den Nichtregierungsorganisationen (NGO), dass Frauen bei ihnen nicht mitarbeiten dürfen.

    Erös: Das ist doch Unsinn. Natürlich dürfen Frauen bei den NGOs tätig sein. Aber strikt getrennt von den Männern. Bei uns haben alle Frauen nach der Machtübernahme der Taliban weitergearbeitet – allerdings immer in eigenen Büros, getrennt von den Männern. In unseren Schulen müssen wir manchmal etwas tricksen, Lehrerinnen unterrichten zum Beispiel eher am Nachmittag.

    Wie ist denn die Lage der Mädchen und Frauen aktuell?

    Erös: In den Schulen der Kinderhilfe werden Mädchen bis zur 7. Klasse unterrichtet, auch von Lehrerinnen. Allerdings dürfen sie nach wie vor kein Abitur machen, also auch nicht studieren. Ein großes Thema, das auch in Sendungen halbstaatlicher TV-Stationen seit etwa einem halben Jahr erstaunlich offen und kontrovers diskutiert wird. Das Problem ist, dass es auf lange Sicht nicht mehr ausreichend Ärztinnen geben wird. Den Taliban muss klar sein, dass ihre Frauen dann irgendwann von Männern behandelt werden müssten, sich also eventuell – je nach Behandlung – auch vor ihnen entkleiden und von ihnen berühren lassen müssten. Das ist für Väter, Ehemänner oder Brüder unvorstellbar. Also muss das Verbot für Frauen, Abitur zu machen und zu studieren, fallen. Das wollen auch viele Minister in Kabul.

    Aber es gibt weitere Repressionen.

    Erös: Das stimmt, aber die Lage ist nicht vergleichbar mit der ersten Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001, als Mädchen und Frauen viel extremer unterdrückt wurden. In den ländlichen Gebieten hat sich seit der erneuten Machtübernahme der Taliban nicht viel verändert. Aber in Kabul überwacht die Polizei die von der Regierung aufgestellte Kleiderordnung für Frauen. Anders als im Iran werden Frauen, die dagegen verstoßen, nicht verhaftet oder ausgepeitscht. Im Wiederholungsfall werden ihre Ehemänner oder Brüder zur Verantwortung gezogen.

    Sie haben eine lange Erfahrung, was die Zusammenarbeit mit den Taliban betrifft. Es gab immer wieder Meldungen, dass sich die Islamisten nicht einig sind, ob sie einen fundamentalistischeren oder offeneren Kurs einschlagen sollen. Wohin neigt sich das Pendel?

    Erös: Das ist noch nicht entschieden. Der nominelle Anführer der Taliban, Hibatullah Achundsada, sitzt in Kandahar. Er gilt als Hardliner, kommt aber in den Medien kaum vor. Zudem ist sein Ansehen in der Bevölkerung denkbar schlecht – übrigens auch bei den meisten Ministern. Wer die Oberhand behält, wird sich zeigen.

    Ihre Hilfsorganisation ist unweit der pakistanischen Grenze aktiv. Die Regierung in Islamabad hat angekündigt, Hunderttausende Afghaninnen und Afghanen abzuschieben. Rund 1,7 Millionen der circa 4,5 Millionen Afghanen in Pakistan sollen keine Aufenthaltsgenehmigung haben. Wie viele sind schon in ihrer Heimat angekommen?

    Erös: Darüber liegen keine gesicherten Zahlen vor. Es könnten einige hunderttausend sein. Betroffen sind einmal Familien, deren Männer nach dem Einmarsch der Sowjettruppen im Jahr 1979 ihre Familien (rund 5 Millionen Menschen) nach Pakistan geschickt haben, um selbst in Afghanistan gegen die Invasoren zu kämpfen. Viele dieser Familien sind danach in Pakistan sesshaft geworden, haben sich eine Existenz aufgebaut. Die meisten sahen keinen Grund, sich registrieren zu lassen. Das hätte ihnen auch keine Vorteile gebracht. Weitere Afghanen suchten ab 1996 nach der ersten Machtübernahme der Taliban Schutz im Nachbarland, auch während der 20 Jahre andauernden Präsenz der Nato im Land gingen Afghanen nach Pakistan.

    Warum will die pakistanische Regierung die Menschen aus dem Land treiben?

    Erös: Im Frühjahr wird in Pakistan gewählt. Der frühere Premierminister Nawaz Sharif, ein korrupter Milliardär, will erneut Regierungschef werden. Das Oberste Gericht hat eine Verurteilung wegen Bestechlichkeit aufgehoben, damit kann er antreten. Er wird vom mächtigen Militär unterstützt. Im Wahlkampf hat Sharif die Afghanen als Buhmann für die desolate wirtschaftliche und Sicherheits-Lage ausgemacht. Sie seien kriminell und würden hinter islamistischen Anschlägen stecken. Das ist zwar Unsinn, aber politisch wirksam.

    Was bedeutet die Rückkehrwelle für die Stabilität Afghanistans?

    Erös: Das kann man erst beurteilen, wenn klar ist, wie viele in ihre ursprüngliche Heimat zurückkommen. Die meisten sind Paschtunen. Zum Teil gehen sie in ihre Dörfer im Nordosten zurück, andere haben keine Wurzeln mehr in Afghanistan. Unsere Kinderhilfe hilft ihnen, wenn sie über die Grenze durch den Osten des Landes ziehen.

    Was kann und sollte der Westen, was die deutsche Bundesregierung tun, um die humanitäre Situation im Land zu verbessern, ohne die Taliban nachhaltig zu unterstützen?

    Erös: Ein erster wichtiger Schritt wäre, endlich wieder einen deutschen Botschafter zu entsenden. Die Taliban sind nun mal an der Macht und sie haben ein Interesse an Kontakten. Sie wollen, dass deutsche NGOs oder Unternehmen nach Afghanistan kommen. Das Land und die Menschen brauchen dringend mehr Hilfe. 

    Sie beklagen, dass der Westen Afghanistan vergessen hat.

    Erös: Das fängt schon bei den Medien an. Warum berichten fast keine Journalisten aus dem Land, in dem 20 Jahre die Nato stationiert war, bevor sie sich völlig unkoordiniert davonmachte. In das der Westen rund 1200 Milliarden Euro gesteckt hat, in dem auch 59 deutsche Soldaten starben. Von 2001 bis 2021 kamen circa 150.000 afghanische Zivilisten ums Leben. US-Journalisten berichten, dass allein im Jahr 2011 bei Kampfhandlungen 490 Kinder getötet wurden; mehr als die Hälfte von ihnen durch US-Streitkräfte, sogenannte „Kollateral-Schäden“! Wo ist heute die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, die doch eine feministische Außenpolitik propagiert, bei der Unterstützung afghanischer Mädchen und Frauen?

    Sicherheitsbehörden in westlichen Ländern verzeichnen einen Einbruch der Opiumlieferungen aus Afghanistan. Machen die Taliban tatsächlich Ernst mit ihrer Ankündigung, den Opium-Anbau kompromisslos zu bekämpfen?

    Erös: Ja, die Taliban machen Ernst. Es werden im Vergleich zu Nato-Zeiten nur noch fünf Prozent der Menge des Heroin-Grundstoffs angebaut. Das ist eine gute Nachricht für die Drogenfahnder in Europa oder den USA, aber für afghanische Kleinbauern eine Katastrophe. Sie hatten ein Auskommen. Wenn sie jetzt auf ihren drei Hektar Kartoffeln anbauen, reicht das nicht zum Überleben. Mein Vorschlag ist, weiter Schlafmohn anzubauen, aus dem unter staatlicher Aufsicht zum Beispiel deutsche Unternehmen in Afghanistan Medikamente statt Heroin herstellen. Der Absatz für die Schmerzmittel wie Morphine und Kodeine in Pakistan und anderen Ländern wäre gesichert.

    Reinhard Erös, 75, verließ in den 1980ern die Bundeswehr, um als Arzt die Zivilbevölkerung im sowjetisch-afghanischen Krieg medizinisch zu versorgen. 1998 gründete er die "Kinderhilfe Afghanistan", die Schulen, eine Universität, Kinderheime und Kliniken betreibt. Der ausgewiesene Afghanistan-Experte hat mehrere Bücher über das Land verfasst.

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