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Interview: Wladimir Klitschko: "Wir werden es den Russen nicht erlauben, uns auszulöschen"

Interview

Wladimir Klitschko: "Wir werden es den Russen nicht erlauben, uns auszulöschen"

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    Wladimir Klitschko mit seiner Co-Autorin Tatjana Kiel bei der Vorstellung des Buches "Gestohlene Leben - die verschleppten Kinder der Ukraine", erschienen im Heyne Verlag.
    Wladimir Klitschko mit seiner Co-Autorin Tatjana Kiel bei der Vorstellung des Buches "Gestohlene Leben - die verschleppten Kinder der Ukraine", erschienen im Heyne Verlag. Foto: Heyne Verlag

    Herr Klitschko, bevor wir ins Gespräch einsteigen, die grundsätzliche Frage: Wie ist aus Ihrer Sicht aktuell die Lage in der Ukraine?
    WLADIMIR KLITSCHKO: Das Problem ist, dass es seit Oktober einen neuen Krieg gibt, der Krieg in der Ukraine aber nach wie vor weitergeht - täglich, auch während wir jetzt miteinander sprechen. Putins Armee veranstaltet einen Ökozid (die systematische Zerstörung der Heimat/d. Red.) und einen Genozid. Auch dieser Krieg, der ja im Prinzip seit 2014 geführt wird, verändert sich.

    Frau Kiel, Sie haben zusammen mit Herrn Klitschko ein Buch über die verschleppten Kinder in der Ukraine geschrieben, „Gestohlene Leben“ heißt es. Darin erzählen entführte ukrainische Kinder, die aus Russland gerettet werden konnten, ihre Geschichte. Es sind Kinder, die zurück in die Ukraine gebracht werden konnten.
    TATJANA KIEL: Wir wollen damit aufzeigen, dass Russland neue Methoden entwickelt hat, um den Genozid an den Ukrainern zu vollziehen. Eine davon ist, Jugendliche und Kinder zu entführen und ihnen zu erzählen: „Eure Eltern wollen euch nicht“, und „die westliche Welt ist böse“. Um das aufzuklären und Hilfe zu mobilisieren, haben wir dieses Buch geschrieben. Dass die Verschleppung tatsächlich so systematisch geschieht, war uns anfangs gar nicht bewusst. Es gab immer wieder Familien, die ihre Kinder guten Gewissens in Feriencamps abgegeben haben, weil sie glaubten, sie kämen nach zwei Wochen wieder zurück. Und es wurden ganze Schulen verschleppt, weil es Lehrer gab, die prorussisch waren. Wir wollen zeigen, wie systematisch die Ukraine destabilisiert werden soll.

    Wie viele Kinder sind davon betroffen?
    KIEL: Russland nimmt für sich in Anspruch, 700.000 Kinder in angebliche Sicherheit gebracht zu haben. Wir haben bis jetzt 20.000 identifizieren können, die verschleppt wurden. Aber die tatsächliche Zahl liegt wohl deutlich höher, vielleicht tatsächlich hunderttausende.

    Der frühere Boxweltmeister Wladimir Klitschko kämpft dafür, dass nach Russland verschleppte Mädchen und Jungen zu ihren ukrainischen Familien zurückkehren können.
    Der frühere Boxweltmeister Wladimir Klitschko kämpft dafür, dass nach Russland verschleppte Mädchen und Jungen zu ihren ukrainischen Familien zurückkehren können. Foto: Marcus Brandt, dpa (Archivbild)

    Herr Klitschko, Sie sagen, die Verschleppung der Kinder sei ein Kriegsverbrechen Russlands. Die russische Version lautet, 700.000 Kinder in Sicherheit gebracht zu haben.
    KLITSCHKO: Das sage nicht nur ich. Denn Putin ist vom internationalen Strafgerichtshof verurteilt worden – und zwar nicht wegen der Zerstörung der Infrastruktur, dem Ökozid oder den präzisen gezielten Morden an Zivilisten, sondern wegen der Kinder. Kinder werden bereits seit 2014 verschleppt, sie wurden einer Gehirnwäsche mit russischer Propaganda unterzogen. Inzwischen haben wir Fakten, die besagen, dass an einer Frontlinie Kinder aus einer Familie gegeneinander kämpfen. Damit schafft man den Genozid des ukrainischen Volkes noch schneller. Ich habe mit meinen eigenen Augen an der Front gesehen, was Propaganda ist und was stimmt.

    Bisher konnten gut 200 Kinder in Sicherheit gebracht werden, etwa 20.000 sind als verschleppt identifiziert. Wie viele Kinder hoffen Sie bergen zu können?
    KIEL: Wir wissen von 20.000. Bei denen haben die Eltern ihre Kinder offiziell als vermisst gemeldet. Inzwischen haben wir 215 Kinder zurückgebracht. Fünf sind gerade auf dem Weg nach Hause. Wir hoffen natürlich, möglichst viele retten zu können. Jedes einzelne Kind zählt.

    Wo werden die Kinder nach der Rettung untergebracht und erhalten sie psychologische Unterstützung?
    KIEL: Wir haben zusammen mit der Aktion ,Ein Herz für Kinder' eines von mehreren Hope and Healing-Center aufgebaut. Dort können betroffene Familien wohnen und sich vorsichtig wieder annähern, bis man wieder irgendwo unterkommt. Dort treffen sich Familien, die Ähnliches erlebt haben. Sie können sie sich gegenseitig stützen. Viele glauben, sie bräuchten keine psychologische Hilfe. Aber meist stellt sich schnell heraus, dass das doch der Fall ist. Fast alle Kinder kommen mit einer großen mentalen Last zurück.

     
    KLITSCHKO: Die mentale Unterstützung ist extrem wichtig. Denn diese Kinder haben statt der Welt Angst und den Schrecken entdecken müssen. Wenn man körperlich versehrt ist, kann man weiterleben, aber die psychischen Schäden machen das oft sehr schwer.

    Herr Klitschko, Sie sagen, das Buch sei kein schönes, kein angenehmes Buch. Und trotzdem passt es irgendwie besonders zu Weihnachten, oder?
    KLITSCHKO: Das ist richtig. Es ist ein schrecklich-schönes Buch. Es sind die Geschichten der Kinder, die verschleppt worden sind. Aber sie haben ein Happy End, denn wir konnten sie zurückholen. Ich hoffe, dass wir mit diesem Buch auch wieder mehr Aufmerksamkeit für den russischen Angriffskrieg schaffen können. Denn man wird kriegsmüde, nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Westen. Man gewöhnt sich so schnell an das Schreckliche gleich nebenan. Und wir müssen möglichst viele Kinder schnell retten. Denn je länger sie in Russland sind, desto gründlicher kann man ihre Identität löschen und die Taten vertuschen.

    Herr Klitschko, noch einmal zurück zum Kriegsgeschehen. Die ukrainische Offensive in diesem Jahr wird von Experten als nicht so erfolgreich wie erwartet bezeichnet. Kann Ihr Land diesen Abnutzungskrieg noch gewinnen?
    KLITSCHKO: Inzwischen kämpfen wir seit 20 Monaten. In der Sommeroffensive 2022 haben wir mehr als die Hälfte des besetzten Gebietes zurückgeholt. Die diesjährige Offensive war weniger erfolgreich. Denn wir haben den Russen die Möglichkeit gegeben, sich einzugraben und tun uns darum schwer. Wir haben ja keine Luftwaffe und insgesamt zu wenig geeignete Waffen, um erfolgreich anzugreifen. Jetzt steht der Winter bevor.

    Was bedeutet das?
    KLITSCHKO: Insgesamt wird es noch komplizierter werden, die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Darum müssen wir uns künftig auch stärker selbst helfen. Wir müssen eine eigene Waffenproduktion aufbauen. Es ist aktuell wie in einem Boxkampf. Wir sind über die Mitte hinweg. Aber es liegen noch viele Runden vor uns. Ich glaube, dass der Krieg noch länger dauern wird, als wir alle erwarten. Wir, aber auch die freie Welt müssen uns besser auf Kriege vorbereiten, denn das Böse kommt immer wieder hoch. Und dann müssen wir in der Lage sein, es zu bekämpfen.

    Braucht die Ukraine mehr Waffen aus Europa?
    KLITSCHKO: Der Krieg ist kompliziert. Man braucht mehr Drohnen. Es ist nicht mehr wie in den alten Zeiten. Es ist auch ein IT-Krieg - auch unter der Erde wird viel entschieden. Die Russen haben es gemacht wie die Hamas in Gaza. Die Sie haben sich eingegraben. Natürlich wären mehr Waffen gut.

    Hat man sich in der Ukraine schon mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, dass Donald Trump die nächsten US-Wahlen gewinnen könnte?
    KLITSCHKO: Man muss sich nur ansehen, was in- und außerhalb der Vereinigten Staaten in der Amtszeit von Donald Trump passiert ist. Dann weiß man, was sich ereignen könnte. Ich glaube nicht, dass sich Trump in seinem Alter noch ändern wird.

     
    KIEL: Um ganz ehrlich zu sein: Wir brauchen in der Welt keine Narzissten wie Trump als Staatsoberhäupter, sondern Menschen, die verstehen, dass Geld und Macht nicht alles sind.

    Was macht Sie optimistisch, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann?
    KLITSCHKO: Ich habe gar keinen Zweifel, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Denn ich weiß eines: Leben kann man nicht stoppen. Ja, man kann killen und zerstören. Aber das Leben kann man nicht stoppen. Je mehr Krieg und Kriegsverbrechen in der Ukraine stattfinden werden, umso resilienter werden wir dagegen. Wir werden es den Russen nicht erlauben, uns auszulöschen – mit oder ohne Unterstützung. Es gibt ein physikalisches Gesetz: Jede Aktion trifft auf eine Reaktion. Wir sind nicht wie die Russen Sklaven. Wir werden für unsere Freiheit kämpfen und unser Land befreien!

    Zur Person

    Wladimir Klitschko, 47, Unternehmensgründer und Autor, ist wie sein älterer Bruder Vitali ein früherer Boxweltmeister im Schwergewicht. Zusammen mit der Autorin Tatjana Kiel, der Geschäftsführerin von Klitschko Ventures, hat er die Initiative Hilfsorganisation #WeAreAllUkrainians gegründet.

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