Frau Timoschenko, Sie sind erstmals seit der Invasion Russlands in die Ukraine wieder im Ausland unterwegs. Wie geht es Ihnen und wie blicken Sie auf die letzten drei Monate zurück?
Julija Tymoschenko: Ich fühle einen allumfassenden, großen Schmerz angesichts so vieler Morde, toter Menschen, zerstörter Städte. Wir sind ein demokratisches europäisches Land, das viele Jahre in Frieden gelebt hat. Wir hatten nie Ambitionen hinsichtlich anderer Territorien oder Länder. Es gibt keine aggressive Seele. Und jetzt werden Ukrainer getötet. Es ist surreal. Ich kann noch immer nicht glauben, dass uns das passiert.
Nun führt Sie Ihre Reise nicht zufällig nach Brüssel. Sie setzen sich seit vielen Jahren für einen EU-Beitritt der Ukraine ein. Sehen Sie jetzt die Chance gekommen?
Tymoschenko: Die Frage ist doch vielmehr, warum wir nicht schon lange Mitglied sind? Der Grund liegt darin, dass ein Teil der europäischen Staats- und Regierungschefs ihre Beziehungen zu Wladimir Putin und Russland nicht beschädigen wollte. Aber meiner Meinung nach gibt es eine deutliche Verbindung zwischen dem Krieg und der Diskussion über den EU-Kandidatenstatus. Es handelt sich ja nicht um ein neues Ziel der Ukrainer. Sie bekunden schon lange klar ihren Willen, wieder Teil Europas zu werden. Das ist der Grund, warum Putin den Krieg begonnen hat. Wir sind das einzige Land, das heute mit dem Leben seiner Bürger und mit seinem Blut für den Wunsch bezahlt, in die europäische Heimat zurückzukehren.
In der EU bleiben die Meinungen gespalten. Deutschland und Frankreich beispielsweise dämpfen regelmäßig die Hoffnung auf einen schnellen EU-Beitritt der Ukraine.
Tymoschenko: Als die Massaker des russischen Militärs in Butscha bekannt wurden, hat die EU grundsätzlich positiv auf den Antrag der Ukraine reagiert. Alle waren so schockiert über die hohe Zahl der Opfer. Aber nun sind einige Wochen vergangen und plötzlich beginnen wir zu hören, dass die Zeit wohl doch nicht gekommen ist. Dass man eher eine Union schaffen will, die speziell auf die Ukraine zugeschnitten ist.
Der französische Präsident Emmanuel Macron verwies darauf, dass ein Verfahren Jahrzehnte dauern könnte, und schlug statt eines schnellen Beitritts die Schaffung einer „europäischen politischen Gemeinschaft“ für die Ukraine und andere beitrittswillige Länder vor.
Tymoschenko: Ja, aber wir wollen keinen Ersatz. Wir wollen nicht, dass für die Ukraine ein spezielles europäisches Getto geschaffen wird. Das werden wir nicht akzeptieren. Der Moment ist gekommen, sich dem Kreml und dessen Erpressung entgegenzustellen. Das ist eine Wahl zwischen den Werten und dem Preis, den man bereit ist, zu bezahlen. Es ist an der Zeit zu beweisen, dass das ganze Gerede über Werte wahrhaftig ist.
Als größte Hürde, warum die Ukraine der EU-Mitgliedschaft bislang nicht näher kam, gilt Korruption.
Tymoschenko: Wenn wir ehrlich sind, dann gibt es leider in vielen Ländern Korruption. Immer erhält man dieses Standard-Argument der Korruption, wenn jemand versucht, eine Erklärung zu finden, warum die Ukraine nicht akzeptiert wird. Der wirkliche Grund ist Putins Vetomacht. Jetzt aber naht die Stunde der Wahrheit. Und seit dem Zeitpunkt, als die EU-Länder beschlossen, dass die Ukraine den Kandidatenstatus verdient, wurde nicht mehr viel über Korruption gesprochen.
Trotzdem, der EU-Rechnungshof stellte 2021 fest, dass „Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine“ untergraben. Wie kann dieses Problem ausgemerzt werden?
Tymoschenko: Natürlich gibt es in der Ukraine als Teil der ehemaligen Sowjetunion Korruption. Das hängt mit der Qualität der Institutionen zusammen. Ich akzeptiere, dass wir die Korruption bekämpfen müssen, aber ich protestiere, wenn sie als Vorwand angeführt wird, um dem Kandidatenstatus kein grünes Licht zu geben. Durch das Assoziierungsabkommen mit der EU ist es uns bereits gelungen, einige Institutionen zu reformieren, ein spezielles Gremium zur Korruptionsbekämpfung wurde eingerichtet, Standards haben sich geändert. Ich würde nicht sagen, dass es in dieser Hinsicht keine Fortschritte gab.
Deutschland wurde in den letzten Monaten auf internationaler Ebene scharf kritisiert. Für seine Energie-Abhängigkeit von Russland und für das für viele zu zögerliche Vorgehen bei Waffenlieferungen und Sanktionen.
Tymoschenko: Ich habe die deutsche Regierung stets gepriesen. Wir hatten immer herzliche und konstruktive Beziehungen zu Deutschland. Angela Merkel war zu ihrer Zeit eine sehr starke Kanzlerin, eine echte Freundin der Ukraine. Ich glaube, dass sie das auch bleiben wird.
Obwohl sie 2008 eine der treibenden Kräfte war, die eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine verhindert hat?
Tymoschenko: Das war ein tragischer und weitreichender Fehler. Ich habe damals als Ministerpräsidentin den Antrag unterzeichnet. Hätte die Nato die Ukraine aufgenommen, wäre es nie zum Krieg gekommen. Aber es gibt immer die Chance, Fehler zu korrigieren.
Das klingt sehr versöhnlich. Haben Sie ähnlich viel Verständnis für die aktuelle Regierung?
Tymoschenko: Die deutsche Wirtschaft ist eng mit Russland verflochten und von russischen Ressourcen abhängig. Natürlich erschwert dies politische Entscheidungen in Bezug auf Energie-Embargos oder Sanktionen. Aber Deutschland hat eine solche Entscheidung im Prinzip getroffen, es unterstützt den EU-Kandidatenstatus der Ukraine und wird Waffen liefern, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Das zeigt doch, dass sich Deutschlands Position radikal verändert. Es ist ein politisches Erdbeben.
Die sogenannte Zeitenwende löste viele Diskussionen in Deutschland aus. Was antworten Sie den Skeptikern?
Tymoschenko: Es ist im Interesse Deutschlands, diesen Krieg mit einem Sieg der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden. Je eher das Kreml-Regime scheitert, desto eher werden die Deutschen zum normalen Zustand ihres bisherigen Lebens zurückfinden. Aber damit Putins aggressives Regime zusammenbricht, braucht es eine dramatische Erhöhung der Waffenlieferungen und maximale Sanktionen. Die Finanzmittel heizen diesen Krieg an. Täglich erhält Russland von der EU bis zu eine Milliarde Euro für seine Energie-Ressourcen. Das bedeutet, dass Russland den Krieg fast endlos weiterführen kann, wenn dieser Geldfluss nicht gestoppt oder erheblich reduziert wird. Natürlich sind die verhängten Sanktionen ein zweischneidiges Schwert. Die Länder, die stärker von Russland abhängen, sind gezwungen, mehr Opfer zu bringen. Wir Ukrainer schätzen diesen Wandel sehr, denn wir verstehen den Schmerz und die Last, die er mit sich bringt. Aber der Ukraine zu helfen bedeutet, Europa zu retten.
Sie wollen demnächst nach Berlin reisen. Ist es diese Botschaft, die Sie mitbringen?
Tymoschenko: Ich will der Regierung sagen, dass sie die Möglichkeit hat, den Lauf der Geschichte Europas zu verändern. Dass sich das Land aus der Abhängigkeit lösen muss, die Russland ausnutzt, um es zu erpressen. Deutschland hat die Zukunft und das Schicksal Europas in der Hand. Von Deutschland hängt entscheidend ab, dass dieser Krieg endet, dass es keine Sanktionen und keine weiteren Kriege in der Zukunft gibt. Es ist eine Gelegenheit, Führung zu demonstrieren, einschließlich der moralischen Führung. Alle Länder, die zu erobern Russland versucht ist, sollten Teil des Verteidigungsabkommens werden. Das würde die Tür zu jedem künftigen Krieg schließen. Putin wird keinen Krieg gegen die Nato führen.
Wenn Sie von Sieg sprechen: Was meinen Sie ganz konkret?
Tymoschenko: Eine vollständige Niederlage der russischen Truppen auf dem Territorium der Ukraine und die Rückgabe des ukrainischen Gebiets, zurück zu den staatlich anerkannten Grenzen. Ein Sieg würde die Wiederherstellung der Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine und die Rettung des ukrainischen Volkes vor dem Völkermord bedeuten. Und als Konsequenz daraus würde die Mitgliedschaft in der EU und der Nato folgen. Das wäre ein vollständiger Sieg.
Können Sie sich Zugeständnisse vonseiten der Ukraine vorstellen, um den Krieg vorzeitig zu beenden, wie einige politische Akteure im Westen fordern?
Tymoschenko: Nennen Sie mir ein Beispiel. Sollen wir die Krim und den Donbass aufgeben? In zwei Jahren würde Putin kommen und sagen: Das reicht nicht, gebt mir die halbe Ukraine. Und wieder zwei Jahre später würde er auch Kiew fordern. Wie kann man erwarten, einen Aggressor und Mörder mit Land zu bezahlen? Das ist unlogisch. Es würde den Krieg nicht beenden, nicht im Donbass, nicht auf der Krim. Denn er will sich nicht nur das Land aneignen, sondern auch unsere Geschichte, unsere Kultur. Er sieht die Ukrainer nicht als eine Nation, die es verdient hat zu existieren. Wie könnten wir ihm erlauben, sein Ziel zu erreichen? Wie könnte die gesamte freie Welt es zulassen, dass in der Mitte Europas ein ganzes Volk ausgelöscht wird?