Herr Juncker, Sie waren Kommissionspräsident während der großen Krise der Asylpolitik. Acht Jahre später ist es den EU-Staaten noch immer nicht gelungen, eine Reform zu verabschieden. Wie lange geht das gut?
JEAN-CLAUDE JUNCKER: Nicht irrsinnig lange. Die Probleme sind 2023 kaum anders als jene, mit denen wir 2015 konfrontiert waren. Europa muss ein offener Kontinent bleiben für die Verfolgten der Welt, die berechtigterweise Asyl beantragen. Aber wir müssen fein – manchmal auch grob – unterscheiden zwischen Asylberechtigten und irregulären Migranten. Dass ein energisches Zupacken nicht gelingt, liegt nicht an einer einfallslosen Kommission, sondern weil sich die Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund ihrer innenpolitischen Entwicklungen, Irrungen und Wirrungen nicht dazu entschließen können, im solidarischen Schulterschluss dieser Krise zu begegnen. Würden die Staaten dem Folge leisten, was die Kommission 2015 vorgeschlagen hat, wäre die Lage heute nicht so dramatisch.
Sie forderten damals eine Verteilung der Flüchtlinge …
JUNCKER: Ja, eine Quotenregelung. Ich mag diesen Ausdruck nicht, weil es sich um Menschen mit ihren individuellen Biografien, Träumen, Erwartungen und Nöten handelt. Und auch damit würde die Ankunft von Flüchtlingen nicht gebremst werden. Der Schlüssel liegt im Internationalen. Wir müssen es hinkriegen, dass die Herkunftsländer bereit sind, nicht Asylberechtigte wieder zurückzunehmen. Das ist eine schwierige Kiste, weil sich die meisten dieser Staaten weigern.
Haben Sie den Eindruck, dass auch Sie gescheitert sind bei dem Versuch, die Krise zu lösen?
JUNCKER: Wenn die EU zukunftsorientierte Entscheidungen trifft, dann waren es immer die Regierungen, die das bewirkt haben. Wenn etwas nicht gelingt, ist es immer die Kommission, die gescheitert ist. Aber ich lasse mich nicht in Haft nehmen für das Unvermögen der europäischen Mitgliedstaaten, Lösungen herbeizuführen.
Bei den ukrainischen Flüchtlingen gab es unbürokratische Unterstützung …
JUNCKER: Das ist ein Exempel dafür, dass man außerhalb der eingetretenen Pfade Sonderregelungen treffen kann. Die Tatsache, dass die Ukrainer aus demselben kulturellen und religiösen Raum stammen wie wir, bringt mit sich, dass wir sie mit offenen Armen empfangen haben. Dass wir uns dagegen hartherzig gegenüber Syrern oder Afghanen zeigen, will mir nicht in den Kopf. Ich bin gegen diese Zweiteilung der Flüchtlinge. Wenn ein Muslim aus Syrien wegläuft, weil seine Frau vergewaltigt und seine Kinder getötet wurden, ist das ein Asylgrund derselben Qualität wie die Gründe, auf die die Ukrainer zurecht verweisen.
Was ist Ihre Botschaft an die 27 Staats- und Regierungschefs, die sich Ende der Woche im spanischen Grenada treffen?
JUNCKER: Ich wünschte mir mehr Herzenswärme. Das ist ein altmodischer Ausdruck, er klingt fast nach romantischer deutscher Literatur aus dem 19. Jahrhundert, aber Menschen sind Menschen. Man kann sie nicht unterteilen nach Religionszugehörigkeit oder Geografie.
Ihre Abschlussrede als Kommissionspräsident schlossen Sie mit dem Aufruf: „Bekämpft den dummen Nationalismus!“ Heute sind extreme Parteien auf dem Vormarsch. Was können die etablierten Parteien dem Rechtsruck entgegensetzen?
JUNCKER: Sie müssen sich davor hüten, dasselbe zu sagen wie die Populisten. Wer denen nachrennt, sieht sie nur von hinten. Man muss sich ihnen in den Weg stellen. Die extremen Rechten formulieren simple Antworten für komplizierte Vorgänge. Die Welt ist aber nicht einfacher geworden in den letzten Jahren. Die Bürger hatten mit vielen Krisen zu tun, die zu massiver Verunsicherung beitragen. Finanzkrise, Pandemie, Krieg in der Ukraine: Das ist ein bisschen viel für die kurze Zeit. Und wenn die Menschen irre werden von der Wirklichkeit, haben die Populisten ein leichtes Spiel. Sie müssen nur die dumpfen Gefühle, die es in Teilen der Bevölkerung gibt, einfangen. Schlussendlich bleibt das Problem, dass die Politik für unkontrollierte Einwanderung bis heute keine Antwort gefunden hat.
Giorgia Meloni, Italiens Regierungschefin von den postfaschistischen Fratelli d’Italia, wird auf EU-Ebene von vielen als konstruktive Partnerin gelobt. Macht man Rechte damit hoffähig?
JUNCKER: Nein, wir bekämpfen die ja in Wort und Tat. Wenn die Extremen aber regieren, muss man sie an ihren Taten messen. Frau Meloni a priori zu einer Aussätzigen zu erklären, obwohl sie versucht, sich im europäischen Mainstream zu bewegen, ist nicht gewinnbringend und stärkt die Extremen. Wir dürfen keine Rassisten der Gesinnung werden. Man muss auch mit denen reden, die nicht so sind wie wir. Ich bin aber dagegen, dass man einen Schulterschluss übt mit diesen Postfaschisten. Ich warne vor der Gefahr von rechts, nach dem Motto: Wehret den Anfängen! Und überprüft! Da ich der einzige europäische Christdemokrat bin, der noch Lenin zitieren darf, sage ich: Man muss versuchen, die Dinge hinter den Dingen zu erkennen und damit auch die tiefer sitzenden unschönen Reflexe beachten.
Viele fordern rasche Aufnahmegespräche mit der Ukraine. Wie bewerten Sie diese Diskussion?
JUNCKER: Man darf den Menschen in der Ukraine, die bis zum Hals im Leid stecken, keine falschen Versprechungen machen. Da bin ich sehr erbost über einige Stimmen in Europa, die den Ukrainern vorgaukeln, sie könnten sofort Mitglied werden. Das wäre weder gut für die EU noch für die Ukraine. Wer mit der Ukraine zu tun gehabt hat, der weiß, dass das ein Land ist, das auf allen Ebenen der Gesellschaft korrupt ist. Trotz der Anstrengungen ist es nicht beitrittsfähig, es braucht massive interne Reformprozesse. Wir haben mit einigen sogenannten neuen Mitgliedern schlechte Erfahrungen gemacht, was etwa Rechtsstaatlichkeit angeht. Das ist nicht noch einmal zu wiederholen.
EU-Ratspräsident Charles Michel oder Ihre Nachfolgerin, Ursula von der Leyen, scheinen das anders zu sehen …
JUNCKER: Die europäische Perspektive für Moldau und die Ukraine, die sich so tugendhaft wehrt und europäische Werte verteidigt, muss aufrechterhalten bleiben, darf aber nicht mit der Hoffnung verbunden werden, dass dies von heute auf morgen einfach so per Knopfdruck erreichbar wäre. Falls die Fortschritte in diesen Ländern, ob in der Ukraine oder auf dem Westbalkan, erzielt werden, muss es doch möglich sein, dass sie an Teilen der europäischen Integration teilnehmen können. Wir sollten darauf hinwirken, dass so etwas wie ein teilweiser Beitritt möglich wird, eine intelligente Form der Fast-Erweiterung.
Wie könnte eine erweiterte EU überhaupt noch funktionieren?
JUNCKER: Wir brauchen interne Reformen. Es kann nicht dabei bleiben, dass wir in Fragen der Außenpolitik im Prinzip einstimmig entscheiden. Das muss mit qualifizierter Mehrheit passieren.
Haben Sie den Eindruck, in Brüssel bereitet man sich auf das Szenario vor, dass Donald Trump wieder US-Präsident wird?
JUNCKER: Ich habe mit Trump vier Jahre lang Nahkampf geübt. Einfach ist das nicht. Weil die Amerikaner wissen, dass wir auf der Verteidigungsseite schwach auf der Brust sind, nehmen sie sich Einiges heraus im Umgang mit Europa. Ich glaube, dass sich die Kommission intensiv mit dem Thema beschäftigt, wobei ich die Erfahrung gemacht habe, dass nicht alles, was Trump ankündigt, auch durchgezogen wird.
Schauen Sie sorgenvoll oder mit Optimismus in die Zukunft? Wie kommt Europa aus der Krise?
JUNCKER: Europa befindet sich in der Krise, seit ich 1982 Mitglied des europäischen Ministerrats geworden bin. Was aber ist seither passiert? Die EU hat sich friedlich nach Ost- und Mitteleuropa erweitert, indem es uns gelungen ist, europäische Geografie und Geschichte miteinander zu versöhnen. Wir haben die Währungsunion geschafft, den Binnenmarkt gestärkt, die Finanzkrise überwunden. In der Pandemie und beim Ukrainekrieg steht die europäische Front geschlossen mit leichten Ausschlenkern der Ungarn und anderen. Insgesamt hat sich die EU nicht nur als Gedankenkonstrukt bewährt, sondern auch als geordnetes politisches Zusammenwirken. Wir haben vieles erlebt, durchlebt und überlebt. Und jetzt denkt man plötzlich, es geht alles schief. Vieles geht nicht schief.
Das bewerten Sie als Errungenschaft?
JUNCKER: Ich halte das angesichts der schrecklichen, europäischen Geschichte und des Auseinanderdriftens der zentralen Kräfte doch für einen auch im Rest der Welt bewunderten kontinentalen Erfolg. Ich bin deshalb nicht skeptisch, aber vorsichtig. Wir müssen nur anfangen, uns in Europa wieder ein bisschen mehr zu lieben. Was wissen wir Luxemburger schon über die Nordeuropäer und die über die Sizilianer? Wenn wir genügend Interesse für andere Völker in Europa aufbringen, könnten wir auch der Welt ein freundlicheres Gesicht zeigen.
Zur Person
Jean-Claude Juncker (68) stand der EU-Kommission von 2014 bis 2019 als Präsident vor. Zuvor war er von 1995 bis 2013 Premierminister Luxemburgs. Heute verbringt er noch zwei Tage pro Woche in Brüssel. Er schreibt ein Buch und möchte deshalb nah an den Archiven bleiben sowie den Kontakt zu Kommissaren und Staats- und Regierungschefs halten, die immer wieder bei ihm im achten Stock des Berlaymont, dem Hauptquartier der Europäischen Kommission vorbeischauen, wenn sie in Brüssel weilen.