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Interview: Wie kann die Ukraine den Krieg gegen Putin noch gewinnen, Herr Kiesewetter?

Interview

Wie kann die Ukraine den Krieg gegen Putin noch gewinnen, Herr Kiesewetter?

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    Er ist CDU-Außenpolitiker und war früher Oberst bei der Bundeswehr: Roderich Kiesewetter.
    Er ist CDU-Außenpolitiker und war früher Oberst bei der Bundeswehr: Roderich Kiesewetter. Foto: Thomas Trutschel, photothek.de/imago-images

    Herr Kiesewetter, Sie waren, bevor Sie in die Politik gegangen sind, Bundeswehr-Oberst und haben bei der Nato gearbeitet. Aus der Ukraine hören wir nach fast zwei Jahren Kämpfen Begriffe wie Abnutzungskrieg oder Stellungskrieg. Was muss man sich darunter vorstellen?

    Roderich Kiesewetter: Der Abnutzungskrieg findet im Osten der Ukraine in der Region Donezk statt. Man schätzt die Zahl der gefallenen und schwer verwundeten russischen Soldaten auf 350.000. Die Russen versuchen nach erbitterten Kämpfen bei Bachmut noch Geländegewinne zu machen, um eine bessere Ausgangslage für neue Angriffe im Frühjahr zu schaffen. Im Zentrum steht unter anderem die Kleinstadt Awdijiwka. Insgesamt ist die Front in der Ukraine aber über 1200 Kilometer lang, das entspricht der Strecke von Flensburg bis Mailand. Das Problem für die Ukraine ist, dass ihre erfolgreiche Offensive 2022 mangels ausreichender westlicher Unterstützung zum Erliegen kam. Die Russen konnten danach über Monate bis zu 20 Kilometer tiefe Minenfelder samt Betonfestungen für Panzer bauen. Ohne Luftüberlegenheit ist das kaum zu überwinden. Hier rächen sich Fehler der Bundesregierung, die der Ukraine damals nicht einmal Schützenpanzer liefern wollte und viel zu spät viel zu wenig Munition bereitstellte, um den Aufbau dieser russischen Stellungen verhindern zu können. Es ist aber auch ein Abnutzungskrieg gegen den Westen.

    Es macht sich Enttäuschung breit, dass auch dieses Jahr die ukrainische Offensive nicht so vorangekommen ist, wie viele erhofft hatten, und es gibt immer mehr Berichte über Kriegsmüdigkeit. Wie bewerten sie die Lage?

    Kiesewetter: Viele Deutsche sehen mit einem pazifistisch geprägten Blick auf die Ukraine, doch die Lage zeigt sich herausfordernder, als viele es wahrhaben wollen. Wir erkennen, dass die Strategie der Bundesregierung nicht aufgeht: Die militärische Hilfe kam erst zu spät und ist bis heute trotz großer Ankündigungen nicht ausreichend. Im Gegenteil, der Bundeskanzler verhindert ausdrücklich, dass Deutschland sich an der Kampfjetkoalition beteiligt, die für eine ukrainische Lufthoheit entscheidend ist. Es gibt elf Staaten, nicht alle besitzen selbst Kampfflugzeuge und beteiligen sich dennoch an der Koalition, darunter sogar Luxemburg. Diese Länder stellen Ausbildungsmöglichkeiten oder logistische Hilfe zur Verfügung. Dazu kommt: Seit Mai verhindert Scholz die Lieferung von Taurus, das wäre eine der effektivsten Mittel für die Ukraine, um russische Versorgungslinien zu unterbrechen.

    Bundeskanzler Olaf Scholz betont stets, Deutschland sei nach den USA inzwischen der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine ...

    Kiesewetter: Der Bundeskanzler macht der deutschen Öffentlichkeit etwas vor, wenn er behauptet, Deutschland sei der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Bei dem, was bisher militärisch geliefert wurde, liegt Deutschland hinter den Briten und anteilig auch hinter anderen Ländern. Nur etwa 15 Prozent der bisher geflossenen Hilfen gingen in militärische Unterstützung. Seit dem russischen Angriff im Februar 2022 liegen wir bei etwa 4,2 Milliarden. Der Rest sind alles nur Ankündigungen. Der allergrößte Teil der deutschen Unterstützung ist zivile Hilfe, hier gehen rund 65 Prozent in die Versorgung der Flüchtlinge im Inland. Wenn der Kanzler mit seiner Politik so weitermacht, wird Deutschland nach seiner Rechnung noch der stärkste Unterstützer der Ukraine, denn Russland tut alles, um die Zahl der Kriegsflüchtlinge Richtung Europa in die Höhe zu treiben.

    Erwarten Sie angesichts des beginnenden Winters eine neue Fluchtwelle aus der Ukraine?

    Kiesewetter: Flucht und Vertreibung gehören zur perfiden Strategie und der menschenverachtenden Kriegsführung von Russlands Präsident Wladimir Putin. Allein zwischen Juni und November haben die Russen in der Ukraine rund 35.000 zivile Ziele angegriffen und im Vergleich dazu lediglich 320 militärische Ziele. Die russischen Angriffe mit Raketen und massenhaften Kampfdrohnen richten sich gezielt gegen Elektrizitäts- und Umspannwerke, Wasserwerke, Kirchen, Krankenhäuser, Schulen, Einkaufsmärkte, Bahnhöfe und Kultureinrichtungen. Und mit Beginn des Winters nehmen diese Angriffe zu, um den Fluchtdruck aus der Ukraine zu erhöhen und die Bevölkerung durch Terror zu zermürben. Wir werden uns weiter auf schlimme Bilder einstellen müssen.

    Richten sich diese Angriffe damit auch indirekt gegen die EU?

    Kiesewetter: Zu Putins Kriegszielen zählt, Europa und den ganzen Westen zu destabilisieren. Er hat dabei nicht nur die US-Wahlen, sondern auch die Europawahlen im Juni im Blick. Sein Ziel ist, dass die populistischen Parteien durch die Themen Flucht und Migration stärkste Kraft werden. Russland fördert Flüchtlingsströme aus dem arabischen Raum und treibt vor allem Ukrainerinnen mit ihren Kindern in die Flucht. Russische Trolle versuchen, innerhalb der ukrainischen Bevölkerung Stimmung zu machen, das Land zu verlassen. Da heißt es zum Beispiel: „Wenn ihr jetzt in den Westen flieht, bekommt ihr noch feste Unterkünfte, im Frühjahr müsst ihr in Zelte.“

    Welche Folgen hat das für die ukrainische Gesellschaft?

    Kiesewetter: Die Ukraine leidet unter dem permanenten Terror gegen die Bevölkerung und den hohen Zahlen an Opfern und Verwundeten unter den Soldaten. Das schlägt sich auch auf die Stimmung in der Bevölkerung nieder: Es gibt öffentliche Proteste der Ehefrauen, der Mütter, die klagen, ihre Männer sind schon 14 Monate an der Front. Zugleich leben in Deutschland inzwischen 200.000 wehrfähige ukrainische Männer, 650.000 in Europa. Die muss man nicht an die Front schicken. Aber es würde der Ukraine sehr helfen, wenn viele in ihr Land zurückkehren würden, um an anderer Stelle zu entlasten, zum Beispiel im Zivilschutz oder als Sanitäter. Sinnvoll wäre ein Regierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, dass die Männer nicht in den Kampf müssen, aber die Heimatfront entlasten. Sechs Millionen Ukrainer sind innerhalb des Landes auf der Flucht, acht Millionen haben das Land verlassen. Putin ist für über 14 Millionen ukrainische Flüchtlinge verantwortlich.

    Sprechen Flucht und Proteste nicht für eine Kriegsmüdigkeit der ukrainischen Bevölkerung?

    Kiesewetter: Viele der Soldaten sind nach über einem Jahr an der Front völlig fertig. Nicht umsonst macht die Bundeswehr spätestens nach sechs Monaten im Einsatz eine Rotation, für die Führung nach 18 Monaten. Doch wir dürfen uns von solchen Berichten nicht täuschen lassen: Die Kampfbereitschaft innerhalb der ukrainischen Armee ist weiterhin außergewöhnlich hoch und ebenso der Rückhalt in der Bevölkerung: Die Zustimmung für die militärische Führung liegt bei weit über 90 Prozent. Für Präsident Wolodymyr Selenskyj bei 80 Prozent. Doch ohne deutlich verstärkte Hilfe aus dem Westen kann die Ukraine den Krieg nicht gewinnen. Deshalb muss jetzt von unserer Seite ein starkes Signal der Unterstützung kommen.

    Wie kann die Ukraine den Krieg gewinnen? Was muss der Westen und Deutschland tun?

    Kieswetter: Zunächst muss Europa politisch Stärke gegenüber Russland zeigen. Dazu gehört als erstes die entschiedene und konsequente Umsetzung der Sanktionen und zweitens ein enger transatlantischer Schulterschluss: Der Bundeskanzler müsste mit Frankreich, Polen, Italien und Großbritannien eine europäische Initiative starten und den Amerikanern eine faire Lastenteilung anbieten und die militärische Unterstützung der Ukraine auf Augenhöhe mit den USA tragen. Das Einsehen, dass es sich um einen europäischen Krieg handelt, würde Donald Trump und den Isolationisten in Washington den Wind aus den Segeln nehmen. Wir brauchen in Deutschland ein Programm für die Rüstungsindustrie, damit die Betriebe in den Drei-Schicht-Betrieb wechseln, ausreichend Munition und mehr als nur 20 Panzer im Jahr herstellen. Dazu braucht es Finanzierungszusagen, Bestellungen und staatliche Priorisierung für entsprechende Betriebe. Und wir müssen die Ukraine viel mehr unterstützen, nicht nur für die Luftüberlegenheit, sondern vor allem auch mit deutschen Taurus-Marschflugkörpern. Damit könnte die ukrainische Armee die Russen auf der Krim von der Versorgung mit Munition, Brennstoff und Logistik abschneiden. Die Krim ist Russlands Nachschub-Drehkreuz und der Schlüssel in diesem Krieg. Putin reagiert nur auf massiven Druck.

    Warum zögert die Bundesregierung Ihrer Meinung nach?

    Kiesewetter: Das Problem bei der militärischen Unterstützung heißt Olaf Scholz. Der Bundeskanzler will offensichtlich nicht, dass der Krieg in der Ukraine mit deutschen Waffen wie Taurus entschieden wird. Der Kanzler hat nie gesagt, die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen, sondern nur die Ukraine dürfe diesen Krieg nicht verlieren. Diesen Stellungs- und Abnutzungskrieg mit hohem Blutzoll sehen wir jetzt. Aber die Bundesregierung ist tief gespalten, die Außenministerin, der Finanzminister und auch der Wirtschaftsminister stehen anders als der Kanzler zum Ziel, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss, und zwar in den Grenzen von 1991. Denn das ist nicht nur für die Ukraine wichtig: Der russische Angriffskrieg ist schon zur Blaupause geworden. Das sieht man aktuell beim Vorgehen Venezuelas gegenüber Guyana und er wird zur Blaupause für Angriffe von China gegen Taiwan und im Westbalkan. Und Putin würde den Krieg nach Moldau und das Baltikum weitertragen.

    Wäre das am Ende für den Westen viel teurer als mehr Unterstützung für die Ukraine?

    Kiesewetter: Wenn die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnt, wird das den Westen ein Vielfaches dessen kosten, was die Ukraine an Unterstützung bräuchte. Wir sehen, wie sich eine gefährliche Allianz gegen den Westen formiert: Nordkorea und Iran liefern Drohnen, Granaten und Raketen nach Russland und bekommen Halbleiter aus China und Raketentechnik sowie Atomtechnik aus Russland. China erhält Zugang zu günstigen Rohstoffen, Russland bekommt Technik und Chips von China. All das bedroht unsere Sicherheit und unseren Wohlstand massiv. Der Kanzler hat all diese Warnungen ignoriert. Doch er steht so schwach da, wie nie. Sollte er bald über die Haushaltskrise oder seine früheren Skandale Cum-Ex oder Wirecard stolpern, könnte die SPD Boris Pistorius als Reservekanzler aufbieten. Für die Ukraine wäre das ein Lichtblick.

    Zur Person: Roderich Kiesewetter ist CDU-Obmann im Auswärtigen Ausschuss und Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Aalen-Heidenheim. Der 60-jährige Oberst a. D. führte bis 2016 den Reservistenverband.

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