Herr Ullrich, Sie setzen sich als CSU-Rechtsexperte im Bundestag für die Einrichtung eines Sondertribunals ein, das die Verantwortlichen für den Angriff Russlands auf die Ukraine und die Kriegsverbrechen eines Tages verurteilen soll. Warum ist das eine Frage für die deutsche Politik?
Volker Ullrich: Das neue Jahr 2023 hat mit Terror Russlands auf die Ukraine begonnen– so wie das alte Jahr geendet hat. Mit schweren Raketenangriffen, bei denen Menschen ermordet wurden. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine geht mit unverminderter Brutalität weiter. Deutschland muss jetzt sehr deutlich zeigen, dass Angriffskriege sich nicht lohnen dürfen. Das bedeutet einerseits, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie ihren Abwehrkampf erfolgreich fortsetzen kann. Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Aber auch wenn die Waffen sprechen, darf das Recht nicht schweigen. Wir brauchen eine Aufklärung und Aburteilung von Kriegsverbrechen. Das gilt nicht nur für diejenigen, die Verbrechen auf ukrainischem Boden begehen, sondern auch für die Täter hinter den Tätern. Auslöser für alle Kriegsverbrechen war ja das Starten des Angriffskriegs durch Russland. Deutschland muss aus seiner historischen Verantwortung eine Führungsrolle übernehmen, damit Gerechtigkeit durch die Verfolgung und Aburteilung der Täter und Hintermänner verwirklicht wird.
Warum reicht dazu nicht der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag aus?
Ullrich: Wir haben hier eine rechtlich komplizierte Situation. Weder Russland noch die Ukraine sind Vertragsstaaten des Römischen Statuts, welches die Rechtsgrundlage für den Internationalen Strafgerichtshof bildet. Und auch wenn die Ukraine mittlerweile eine Erklärung abgegeben hat, dass sie die Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof verfolgt sehen möchte, gilt dies nicht für das Auslösen des Angriffskriegs selbst, im Völkerrecht als „Verbrechen der Aggression“ bezeichnet. Das Verbrechen der Aggression umfasst die Befehlsstrukturen und die Täter hinter den Tätern. Es geht damit um die Frage der Strafbarkeit der politischen Führung in Russland, die den Angriffskrieg zu verantworten hat. Auch der UN-Sicherheitsrat könnte das Verbrechen der Aggression dem Strafgerichtshof vorlegen. Doch auch bei dieser Frage hat Russland ja ein Vetorecht.
Nicht nur Russland und die Ukraine, auch die USA haben von vornherein ausgeschlossen, dass ein Angriffskrieg unter die Zuständigkeit der Den Haager Richter fällt. Ist das ein Geburtsfehler?
Ullrich: Es war trotz dieses Mankos eine große Leistung der Staatengemeinschaft, dass der Internationale Strafgerichtshof 1998 überhaupt entstehen konnte, ein großer Fortschritt für das Völkerrecht. Bis dahin gab es Sonderstrafverfahren für die Verbrechen im Jugoslawien-Krieg oder den Völkermord in Ruanda. Mittlerweile haben über 120 Staaten auf der Welt das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert, doch leider sind einige Mitglieder des Ständigen UN-Sicherheitsrates nicht dabei. China gar nicht, USA und Russland haben das Status bislang nicht ratifiziert.
Das ist ein weiteres Problem: Die Sondertribunale wie beim Balkankrieg sind von den Vereinten Nationen eingerichtet worden. Doch Russland hat im UN-Sicherheitsrat ein Vetorecht. Wie kommt man aus diesem Dilemma?
Ullrich: Die Ad-Hoc Gerichtshöfe für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda sind einstimmig vom UN-Sicherheitsrat beschlossen worden. Das scheint mit der Vetomacht Russland derzeit unmöglich, unklar ist auch, ob China als weitere Vetomacht zustimmen würde. Dennoch muss es einen Weg für Gerechtigkeit geben. Eine Möglichkeit wäre, dass die UN-Generalversammlung ein solches Sondertribunal einsetzt. Sie hat bereits in der breiten Mehrheit den Angriffskrieg verurteilt. Möglich wäre zudem, dass die Ukraine einen völkerrechtlichen Vertrag mit einer internationalen Organisation wie beispielsweise der EU oder dem Europarat für ein Sondertribunal schließt. Auch das könnte ein Verfahren Gang bringen.
Die Unionsparteien wollen nun erreichen, dass der Bundestag eine Resolution beschließen soll, dass Deutschland ein solches Sondertribunal fordert. Was würde dies konkret bewirken?
Ullrich: Deutschland muss sich die Forderung eines Sondertribunals zur Verfolgung des Angriffskriegs gegen die Ukraine zu eigen machen und sie mit seinen europäischen und transatlantischen Partnern umsetzen. Entweder im Weg über die Generalversammlung der Vereinten Nationen oder zumindest mit einer europäischen Lösung. Die Zurückhaltung der deutschen Außenpolitik bei der Frage des Sondertribunals wird von Tag zu Tag unverständlicher. Die EU-Kommission ist dafür, es gibt eindeutige Resolutionen des Europäischen Parlaments und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Auch Frankreichs Regierung lässt Sympathie dafür erkennen. Jetzt sollte der Deutsche Bundestag handeln, aber auch die Bundesregierung.
Warum zögert die Bundesregierung?
Ullrich: Das frage ich mich selbst. Die derzeitige Zurückhaltung bei dieser Frage ist unverständlich. Es heißt manchmal, man wolle den Internationalen Strafgerichtshof nicht durch ein Sondertribunal schwächen. Aber das Recht würde insgesamt geschwächt, wenn das Verbrechen der Aggression keine Aburteilung finden könnte. Sowohl die Außenministerin als auch der Justizminister müssen endlich eine klare Haltung der Bundesregierung zu einem Sondertribunal entwickeln. Bislang gibt es dazu weder von Annalena Baerbock noch von Marco Buschmann klare und eindeutige Aussagen. Ganz im Gegenteil. Die Bundesregierung duckt sich bei der Frage des Sondertribunals weg. Die Bundesregierung muss die Zeitenwende auch im Völkerrecht vollziehen und sich klar zu einem Sondertribunal bekennen.
Glauben Sie ernsthaft, dass die russischen Verantwortlichen tatsächlich eines Tages vor einem internationalen Gericht landen?
Ullrich: Ich hoffe es und halte es auch für realistisch: Auch beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat es länger gedauert, bis man den Hauptverbrechern habhaft werden und sie in Den Haag vor Gericht stellen konnte. Ein Sondertribunal gibt Raum zur Aburteilung des Verbrechens der Aggression und ist ein wichtiges Zeichen der Fortentwicklung des Völkerrechts. Es gibt neben Wladimir Putin in der russischen Führung zahlreiche Verantwortliche für diesen Angriffskrieg, die sich nicht sicher vor strafrechtlicher Verfolgung fühlen dürfen. Ich glaube, dass auch Russlands Bevölkerung dereinst Verständnis haben wird, wenn diese Verbrechen abgeurteilt werden. Recht und Gerechtigkeit brauchen einen langen Atem.
Zur Person: Der 47-jährige Augsburger Bundestagsabgeordnete Volker Ullrich ist rechtspolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe und Mitglied im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags.