Daniel Cohn-Bendit, 1945 als Sohn eines früh nach Frankreich geflohenen jüdischen Juristenpaares in Montauban geboren, wurde 1968 als Wortführer der aufbegehrenden Pariser Studenten bekannt. Nach seiner Ausweisung aus Frankreich engagierte er sich in der Frankfurter Spontiszene und der Kommunalpolitik. Von 1994 bis 2014 saß der grüne Realo im Europaparlament, für das er abwechselnd in Deutschland und Frankreich kandidierte.
Herr Cohn-Bendit. Sie sind Jude, aber immer auch ein großer Freund und Anwalt der Palästinenser gewesen. Wie sehr haben die Massaker vom 7. Oktober Ihr Bild vom Nahen Osten verändert?
Daniel Cohn-Bendit: Da muss ich Sie korrigieren. Ich bin kein großer Freund der Palästinenser, sondern ich setze mich schon sehr lange dafür ein, dass Israelis und Palästinenser gleichberechtigt nebeneinander in zwei Staaten leben können. Und natürlich war der 7. Oktober auch für mich ein furchtbarer Tag. Alle Juden, mich eingeschlossen, haben sich als Zielscheibe eines unfassbaren Massakers gefühlt. Das hat meine grundsätzliche Position nicht erschüttert, allerdings hat dieser Tag eben auch gezeigt, dass es auf palästinensischer Seite noch immer Organisationen wie die Hamas gibt, die nur die Zerstörung Israels zum Ziel haben. Wie da gefoltert, vergewaltigt und gemordet wurde, war auch für mich einfach nur niederschmetternd.
Wer braucht eine Waffenruhe jetzt eigentlich dringender – Israel, das in der westlichen Welt zunehmend an Rückhalt verliert, oder die Palästinenser?
Cohn-Bendit: Die Israelis brauchen eine Waffenruhe und eine Befreiung der Geiseln, um das Trauma des 7. Oktober bewältigen zu können. Das Symbol für dieses Trauma sind die Geiseln. Und die Palästinenser brauchen eine Waffenruhe, weil sie nicht mehr können. Damit anschließend auch über Perspektiven zum Frieden diskutiert werden kann, müssen die Palästinenser sich allerdings von der Hamas als Repräsentant ihrer Interessen befreien und die Israelis von ihrer rechten bis rechtsradikalen Regierung Netanjahu.
Sie empfehlen Israelis und Palästinensern eine Art Paartherapie. Wer wäre denn in diesem Fall der Therapeut und wer müsste auf die Couch? Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmut Abbas? Oder Netanjahu und die Hamas-Spitze?
Cohn-Bendit: Ich habe für einen Film einen früheren israelischen Geheimdienstchef interviewt, der mir den furchtbaren Satz gesagt hat: „Das Leben in Israel ist grandios, solange Du nicht über die Palästinenser nachdenken musst.“ Amerikaner, Europäer und andere Länder, die wie Norwegen vielleicht als Vermittler in Frage kämen, müssen deshalb vor allem eines schaffen: Die Israelis zum Nachdenken über eine Perspektive für die Palästinenser bringen. Umgekehrt müssen die arabischen Staaten die Palästinenser dazu bringen, einen für beide Seiten praktikablen Vorschlag für eine Zwei-Staaten-Lösung zu entwickeln. Paartherapie bedeutet, dass die jeweiligen Unterstützer beide Seiten ins Gespräch bringen. Und wenn das anfangs nicht gleich miteinander funktioniert, dann eben getrennt voneinander.
Ist das im Moment nicht zu viel verlangt? Aussöhnung – nach dem, was Israel am 7. Oktober durchlitten hat und noch durchleidet? Ist eine Waffenruhe nicht das Maximum des Erwartbaren?
Cohn-Bendit: Das kann sein, aber stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten nach dem Krieg dem französischen Ministerpräsidenten Robert Schuman gesagt: Ist es nicht ein bisschen früh für das, was sie wollen – eine deutsch-französische Versöhnung? So kurz nach diesem furchtbaren Krieg, angezettelt von Nazi-Deutschland? Ist ein Waffenstillstand nicht das Höchste, was wir für die nächsten 20 Jahre haben können? Dann hätte Ihnen Schuman gesagt: Theoretisch haben Sie Recht, aber das genügt nicht.
Deutschland und Frankreich hatten Schuman, de Gaulle und Adenauer, die die einstigen Erzfeinde miteinander versöhnten. Wen haben Israel und die Palästinenser?
Cohn-Bendit: Solche Figuren gab es schon. Denken Sie an den ermordeten Ministerpräsidenten Ychzak Rabin. Oder erinnern Sie sich an Anwar el Sadat, den ebenfalls ermordeten ägyptischen Präsidenten, der erst Krieg gegen Israel geführt hat, der es zerstören wollte und ein paar Jahre später einen Friedensvertrag mit Israel schloss. In dieser Region kann alles sehr schnell gehen, Geschichte ist nichts Statisches. Aber Sie haben recht: In der gegenwärtigen Konstellation sehe ich auf israelischer Seite keinen Rabin. Auf palästinensischer Seite dagegen sehe ich durchaus jemanden, der einen Prozess der Aussöhnung beginnen könnte: Marwhan Barghuti
… einen Widerstandskämpfer, der wegen der Beteiligung an etlichen Anschlägen in Israel zu fünfmal lebenslänglich und 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Cohn-Bendit: Ich habe ihn kennengelernt und ich weiß, dass er als junger Mann beeindruckt war von den Osloer Verträgen. Aus Enttäuschung, dass nach Rabins Ermordung nichts mehr voranging, hat er dann zu den Waffen gegriffen. Er könnte, wenn man ihn frei ließe, zu einem Mandela der Palästinenser werden. Der junge Mandela war auch kein Engel, er ist erst mit den Jahren zum Engel geworden.
Yassir Arafat, der die Osloer Verträge mit ausgehandelt hat, war ebenfalls kein Engel. Im Gegenteil. Für eine Zwei-Staaten-Lösung aber fehlt ja noch mehr. Die Palästinenser müssten das Existenzrecht Israels anerkennen und der Gewalt abschwören.
Cohn-Bendit: Erinnern Sie sich noch an die quälend langen Jahre, die Arafat gebraucht hat, bis er das Existenzrecht Israels anerkannte? Das wäre jetzt die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft: den Palästinensern klar zu machen, dass sie einen eigenen Staat bekommen können –aber nur, wenn es daneben einen Staat Israel gibt. Und der israelischen Gesellschaft müssen wir klar machen, dass sie nur dann eine Perspektive auf Frieden hat, wenn die Palästinenser eine realistische Perspektive für ihren eigenen Staat haben. Dieser Staat aber kann nicht von Extremisten geführt werden, etwa von der Hamas. Er braucht eine neue Führung. Und da käme für mich Marwhan Barghuti ins Spiel.
Lassen Sie uns noch einen Blick nach Europa werfen. Nicht nur in Frankreich, sondern auch Deutschland zeigt sich seit dem 7. Oktober ein ungezügelter Antisemitismus aus dem muslimischen Milieu. Sie waren mal Dezernent für Multikulturelles in Frankfurt: Was läuft da schief?
Cohn-Bendit: Ja, es gibt einen muslimischen Antisemitismus. Dagegen muss man klar Farbe bekennen, und zwar nicht mit sozialtherapeutischen Maßnahmen, sondern mit dem Beschreiben klarer Grenzen.
Es sind vor allem junge Muslime, die auf die Straßen gehen und ihren Hass auf alles Jüdische herausschreien. Wer versagt da? Die Schulen? Die Eltern?
Cohn-Bendit: Ein großes Problem ist die Radikalisierung des Islam mit einer Tendenz zum Islamfaschismus. Deutschland aber hat es auch jahrzehntelang versäumt, sich den Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft zu stellen – von den Schulen bis zu den Arbeitsämtern. So haben sich Diskriminierungen perpetuiert. Grob gerechnet ist ein Drittel der dritten Einwanderergeneration in Deutschland schlecht integriert. Aber es gibt auch andere Beispiele. Unsere beiden Söhne etwa sind verheiratet mit Frauen aus Einwandererfamilien, eine aus Eritrea, eine aus Marokko, die beide Abitur gemacht und studiert haben. Was ich damit sagen will: Wir sehen immer nur einen Teil der Realität und nicht die ganze Realität.
Einspruch. Antisemitismus ist doch keine Frage des Bildungsniveaus. An vielen Hochschulen, nicht nur in den Vereinigten Staaten, bricht er sich gerade ungehindert Bahn.
Cohn-Bendit: Ich beobachte auf allen Seiten des akademischen Milieus eine Radikalisierung. Man wundert sich nur noch, wer heute alles AfD wählt, vom wohlhabenden Rechtsanwalt bis zur Zahnärztin. In einer immer wilder gewordenen Welt werden die Verunsicherung und die Radikalisierung gerade immer größer. Auch die Antisemiten werden immer unverschämter. Wir leben in einer Zeit, in der Rationalität und Vernunft schon als etwas Utopisches erscheinen und der politische Diskurs zunehmend an Einfluss verliert.
Zum Ende unseres Gesprächs noch ein kurzer Ausflug in die deutsche Parteipolitik, Herr Cohn-Bendit. Sie haben sinngemäß gesagt, die Bürgerlichen hätten die Grünen zu ihrem Hauptfeind erkoren: „Sie meinen, die Republik gehört ihnen allein, da sind die Grünen wie die Juden, sie stören nur.“ Ist das nicht etwas zu starker Tobak? In einigen Bundesländern regieren Grüne ja vergleichsweis geräuschlos mit den Konservativen.
Cohn-Bendit: Das mit den Grünen und den Juden war vielleicht ein wenig überzogen, das gebe ich zu. Was ich sagen will: Nach der Pandemie und mit den Kriegen, die wir gerade erleben, sagen immer mehr Menschen: Nun lasst uns mit der Politik mal in Ruhe. Aber leider lässt uns der Klimawandel nicht in Ruhe. Das hätten wir gerne, ihn einfach um ein paar Jahre zu verschieben… Schön wär’s, aber das geht nicht. Ich sage nicht, dass die Grünen immer alles richtig machen. Zu glauben, man könne in vier Jahren alles nachholen, was in 15 Jahren versäumt wurde, war sicher ein Fehler. Aber der Anspruch der Grünen ist richtig: Wir müssen mehr gegen den Klimawandel tun, dann aber erklären Parteien wie die Union und die FDP, aber auch Teile der SPD die Grünen zur Verbotspartei.
Schlussfrage an den bekennenden Realpolitiker Cohn-Bendit: Hat die Ampel noch eine Zukunft?
Cohn-Bendit: Die Ampelkoalition hat gezeigt, dass eine Dreierkoalition die Quadratur des Kreises ist. Sie hat nur mit einem fähigen Bundeskanzler eine Zukunft, einem Bundeskanzler, der mit seinen Partnern denkt und führt, aber das macht Herr Scholz nicht. Deswegen hat die Ampel nach der nächsten Wahl keine Zukunft mehr. Ob sie bis zum regulären Wahltermin hält, entscheidet die FDP.