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Interview mit Uwe Tellkamp: Warum die AfD in Ostdeutschland so stark ist

Interview

Warum wählen im Osten so viele Menschen die AfD, Herr Tellkamp?

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    Uwe Tellkamp gehört zu den umstrittensten Schriftstellern der Republik.
    Uwe Tellkamp gehört zu den umstrittensten Schriftstellern der Republik. Foto: Michael Wagner

    Uwe Tellkamp, Buchpreisträger und einer der kontroversesten Schriftsteller des Landes, erwartet die Journalisten im Hof der Buchhandlung Loschwitz. Die benachbarten Häuser sind ockergelb gestrichen, Farben, die an die Toskana erinnern, Spaziergänger flanieren zu den Biergärten an der Elbe. Ganz in der Nähe liegt die Dresdner Villengegend Weißer Hirsch, wo die Bildungsbürger in „Der Turm“, Tellkamps Erfolgsroman, die letzten sieben Jahre der DDR erlebten.

    Seit er Flüchtlingen vorgeworfen hatte, vor allen wegen der Sozialleistungen nach Deutschland zu kommen, muss sich Tellkampf heftige Kritik gefallen lassen. Immer wieder wird ihm vorgeworfen, teilweise extrem rechte Meinungen zu vertreten. Die einen bezeichnen ihn daher als „Teil des bürgerlichen Scharniers in das rechtsextreme Lager“ (RND), andere hingegen als „Dissidenten, den das Land aushalten kann“ (Die Welt). Wer mit Tellkamp auf offener Bühne diskutiert, wie etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im Dezember 2022, muss sich danach tagelang rechtfertigen.

    Wir suchten Mitte Juli dennoch das Gespräch mit dem Schriftsteller. Wir wollten wissen, warum die AfD bei den Landtagswahlen im Osten so stark abzuschneiden droht. Was sind die Gründe für diesen Rechtsruck, ausgerechnet jetzt, 35 Jahre nach dem Erfolg der friedlichen Revolution im Herbst 1989? Wer, so unsere Überlegung, könnte besser dabei helfen, Antworten zu finden, als der Mann, der mit seinem preisgekrönten Roman so vielen Westdeutschen die letzten Jahre der DDR nahebrachte? Tellkamp hat einen Krug mit Wasser und drei Gläser auf den Holztisch gestellt. Zwei Hunde balgen sich auf welligem Kopfsteinpflaster. Wir schalten die Aufnahmegeräte an.

    Herr Tellkamp, alle Welt blickt in diesen Tagen in die USA und beobachtet mit einer Mischung aus Faszination und Grauen den amerikanischen Wahlkampf. Wäre Donald Trump eine gute Romanfigur? Würde es Sie reizen, über ihn zu schreiben?

    Uwe Tellkamp: Unbedingt. Trump ist ein bunter Vogel, mit allerlei Klischees behaftet. Mich reizt seine Chuzpe, diese Verbindung von uramerikanischem Geschäftssinn, einer gewissen Ruchlosigkeit und Entertainment, von Medienkönnen und der Anmaßung: Make America great again. Und dann macht er J.D. Vance zu seinem Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten, einen Mann, der in Hillbilly Elegie so kenntnisreich über das Schicksal der weißen Arbeiterklasse geschrieben hat. Das hat schon ein gewisses Format.

    Wie stoßen Sie auf ein Thema? Und welche Routine haben Sie beim Schreiben?

    Tellkamp: Ich schreibe meistens morgens, das hat ganz pragmatische Gründe. Ich habe eine kleine Tochter, die muss um eine bestimmte Zeit in der Schule abgeholt werden. Das war es dann mit Schreiben. Morgens braue ich mir zunächst einen Kaffee, nach dem Aufstehen, und um Punkt 8 Uhr wird der getrunken, dann, wenn er schon wieder kalt ist. Dann geht es zumeist mit der Überarbeitung dessen los, was ich gestern geschrieben habe. Pläne mache ich schon, aber ich halte mich nicht starr daran. Man muss es schon laufen lassen können, ins Unbekannte reingehen.

    Ihr erfolgreicher Roman „Der Turm“, aber auch „Der Schlaf in den Uhren“ spielen in Dresden. Wie wichtig ist Ihre Heimatstadt für Ihre Arbeit?

    Tellkamp: Das sind die Originaleindrücke. Das kann man nie ablegen. Dort, wo man groß geworden ist, hat man die. Was ist ein Fluss? Das ist bei mir die Elbe. Das wird bei Ihnen der Lech sein. Welche Gerüche dort sind, welche Tiere dort wohnen, was man da erlebt hat – das ist die Welt, aus der es wächst. Mich interessiert auch zunehmend eine fiktive Welt, weil ich da nichts kenne. Da kann mir niemand reinreden, da kann kein Dresdner kommen, der sagt, das Haus da hinten, das war rot, nicht gelb. In einer völlig fiktiven Welt ist alles fremd. Das ist ein Grundgefühl für viele – in unserem Alter und generell in der Gesellschaft. Womöglich hat das mit einer Kindheitsprägung auch aus einer Mangelgesellschaft zu tun. In einem Land aus grauen Farben, da wollen sie die Farben haben.

    Im Wendejahr 1989 waren Sie als Panzerfahrer bei der NVA, und haben den Befehl verweigert, gegen die Demonstranten auszurücken.

    Tellkamp: Wir waren die siebte Panzerdivision, hier in Dresden. Wir hatten Einsatzbefehl. Wir merkten das daran, dass plötzlich ein Nahkampftraining absolviert zu werden hatte. Und dann wurden die Kalaschnikows aufmunitioniert. Da habe ich gesagt: Hier mach ich nicht mit. Ich habe von meinen Eltern gehört, dass mein Bruder am Hauptbahnhof am 5. Oktober mitdemonstriert. Da kamen die Ausreisezüge von der Prager Botschaft, die Erich Honecker in einem Anfall von Wahnsinn noch einmal durch die DDR geleitet hat. Das ist völlig ins Gegenteil geschwappt, in völliger Verkennung der Lage. Das ging, anders als in Leipzig, überhaupt nicht friedlich ab.

    In den vergangenen Jahren sind Sie politisch angeeckt, um es zurückhaltend auszudrücken. Sie haben Pegida verteidigt, prägten das Wort „Gesinnungskorridor“ und veröffentlichten im Umfeld von AfD-Vordenker Götz Kubitschek. Wie kam es zu dieser, nennen wir es einmal, Radikalisierung?

    Tellkamp: Ich war immer schon ein politischer Mensch. Mein Vater war lange Jahre CDU-Mitglied. Zu DDR-Zeiten war er als Arzt Kreisgutachter im Osterzgebirge. Seine Aufgabe war es, behinderte, verunfallte Menschen wieder in die Betriebe zu bringen. Dazu musste er wissen, wie es in den Betrieben wirklich aussieht. Da ist mein Interesse erwacht. Ich kann mich erinnern, dass wir jede Woche Gäste am Mittagstisch hatten. Da saß der Maurer neben dem Uni-Professor. Die Mutter machte was zum Essen, dann ging es los. Wo sind die Probleme? Wie machen Sie das? Das hat mich geprägt.

    Und die Schulzeit?

    Tellkamp: Auch so eine Erfahrung. Ich kam zur EOS, wie das Gymnasium damals hieß. Zum Start ging es, wie damals so üblich, nicht ins Klassenzimmer, sondern zum Arbeitseinsatz aufs Feld, Lager für Arbeit und Erholung, Kartoffeln klauben. Das erste war, dass wir dort einen Fahnenappell machten. Wir mussten antreten, und dann hieß es: Ihr distanziert euch jetzt von einem bestimmten Mädchen, das hat die Ausreise beantragt. Und die einzigen beiden, die sich gemeldet haben und sagten, das machen wir nicht, das war eine Klassenkameradin und ich. Die anderen haben brav mitgemacht. So was prägt. Wie kommen die dazu, mich für ein Mädel, das mir gar nicht bekannt ist, in Haft zu nehmen? Wie kommen die dazu, dass ich es öffentlich verurteilen soll? Ein Querkopf war ich schon immer. Was mich grundsätzlich stört, ist, wenn Macht übergriffig wird, vor allem Staatsmacht. Egal in welcher Richtung.

    Aber ist es nicht ein großer Unterschied, ob man als Querkopf in der späten DDR gegen ein diktatorisches Regime aufbegehrt, wofür es gehörigen Mut braucht, während heute jeder frei wählen und weitgehend nach seiner Fasson glücklich werden kann?

    Tellkamp: Das ist nicht das Gleiche, denn der Preis, den Sie zahlen, ist im Zweifel ein anderer, das stimmt. Meine Beobachtung ist aber, dass es auch heute Preise gibt, die Sie zahlen, und die ich für zu hoch halte. Wenn Sie den Holocaust leugnen, müssen Sie mit Gegenwind rechnen und damit bin ich völlig einverstanden. Keine Frage. Aber wenn Sie eine bestimmte Haltung haben, eine bestimmte politische Position, wenn Sie etwa gegen diese Form der Migration sind, oder gegen die Energiewende in dieser Form, dann sind Sie ganz bestimmt noch lange kein Nazi, oder Teil irgendeiner rechten Ecke, aber diese Zuordnung findet statt.

    Chefredakteur Peter Müller (Mitte) und Hauptstadt-Korrespondent Christian Grimm haben Uwe Tellkamp in Dresden getroffen.
    Chefredakteur Peter Müller (Mitte) und Hauptstadt-Korrespondent Christian Grimm haben Uwe Tellkamp in Dresden getroffen. Foto: Michael Wagner

    Bei einer Podiumsdiskussion mit einem weiteren Dresdner Schriftsteller, Durs Grünbein, sagten Sie 2018 die Flüchtlinge kämen nach Deutschland, „um in die Sozialsysteme einzuwandern“. Nun ist unbestritten, dass es diese Fälle geben mag - aber genauso klar ist, dass viele Menschen um ihr Leben fürchten und deshalb fliehen. Wie kommen Sie zu dieser Verallgemeinerung?

    Tellkamp: Das war in der Tat eine schlechte Formulierung, ich habe mir damals gewünscht, ich hätte noch etwas Erklärendes dazu gesagt. Was ich meinte, war, dass nur 0,7 Prozent der Migranten, die zu uns kamen, einen Asylgrund nach Artikel 16a, Absatz 2, des Grundgesetzes hatten. Das habe ich im Innenministerium extra noch recherchiert.

    Das mag sein, aber die meisten Flüchtlinge haben einen anderen Schutzstatus, etwa nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Aber abseits davon – die Literaturwelt hatte ihren Skandal und Sie wurden zur Persona non grata.

    Tellkamp: So pathetisch würde ich das nicht sagen. Wer sich öffentlich äußert, muss auch mit der Gegenrede rechnen, das ist schon in Ordnung. Doch wenn es ein Pranger wird, dann ist das anders. Man kann ja sagen, der Tellkamp hat Käse geredet und das schreiben wir jetzt mal. Stattdessen hat man gesagt: Jetzt kreuzigen wir ihn.

    Sie sagen, Sie seien nach dieser Diskussion gecancelt worden. Was passierte genau?

    Tellkamp: Das eine sind die Dinge, die man gar nicht erfährt. Man wird nicht mehr eingeladen zu Lesungen, zu Vorträgen. Daneben gibt es die Sachen, die man erfährt. Eben war ich in Usedom in einer sehr abgelegenen Literatureinrichtung. Da sagt mir der Veranstalter, er kriege schon Mails nach dem Motto: Wenn Du den einlädst, dann hast Du Dich entschieden. Wer mich einlädt, geht also ein Risiko ein. Oder in Hamburg, da werden dann Tickets unter falschem Namen aufgekauft, damit der Saal leer bleibt.

    Auch Ingo Schulze, eine weitere wichtige literarische Stimme, die aus Dresden stammt, sagt heute: „Ich war immer gegen diesen Merkel-Spruch“, also das „Wir schaffen das“. Anders als Sie wird er jedoch weiterhin zu Veranstaltungen mit dem Bundespräsidenten eingeladen. Wie erklären Sie sich das?

    Tellkamp: Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Heute ist es ja Konsens, dass wir ein Problem mit der Migration haben. Es ist halt so, wenn Sie den Kopf zu früh rausstrecken, dann kommt die Champignonmethode – Kopf ab. Ich werde oft als rechts eingeordnet, Ingo Schulze als eher bei der Linken, aber auch er ist ruhiger geworden, er kriegt jetzt Probleme, weil er sich im Ukraine-Krieg für Frieden mit Russland einsetzt. Ingo war in der Wendezeit für einen besseren Sozialismus, da war ich strikt dagegen, weil ich das für illusorisch hielt. Günter Grass sagte damals, wir müssen langsamer machen und Otto Schily, der hielt eine Banane in die Kameras, machte sich über die Ossis lustig. So dachten damals viele: Das Volk ist ein großer Lümmel, und das muss man erziehen. Meine Eltern wussten, dass sie im Falle der Wiedervereinigung ihre Arbeit verlieren. Trotzdem sind sie für die Freiheit auf die Straße gegangen. Denn sie wollten, dass ihre Kinder reden können, was sie wollen. Das war das Ziel – und nicht irgendwelche Bananen.

    Sie haben sich mit uns zum Interview hier im Hof des Buchhauses Loschwitz verabredet, einer Buchhandlung, die immer wieder mit rechten Kreisen in Verbindung gebracht wird. Würden Sie sich selbst als rechts verorten?

    Tellkamp: Das ist schwierig. Nehmen wir den künstlerischen Bereich, der mich sehr angeht, da bin ich nicht rechts. Wenn rechts bedeutet, dass Sie sich für konventionelle Sachen begeistern, dann bin ich überhaupt nicht rechts. Im Gegenteil, ich liebe Bauhaus, Klarheit und Strenge, das ist mein Wohnideal. Der Homo Politicus ist vielleicht anders, konservativ, liberal. Nicht im Sinne der heutigen FDP, aber im Sinne großer Liberaler wie Lambsdorff, Solms, Mende.

    Wir wollen mit Ihnen als Schriftsteller, der mit dem „Turm“ so vielen Deutschen den Osten nähergebracht hat, klären, warum so viele dort heute die AfD wählen. Woran liegt das?

    Tellkamp: Aus meiner Beobachtung sind das im Wesentlichen drei Punkte: Da ist die Migration. Die Gemeinden können das nicht mehr finanzieren, ihre Aufgabe als Kommunen, das sind Verkehr und Schulen, und nicht die Aufnahme von Flüchtlingen. Dazu kommt: Wer mit Handwerkern zu tun hat, Bäckern, Fleischern, der sieht, wie sie kämpfen mit den Gaspreisen, das hat schon vor Putin, vor dem Ukrainekrieg angezogen. Die Grüne Energiepolitik, der CO-2-Ablasshandel, die Zertifikate, das zahlen die normalen Leute. Bei mir im Haus haben sich die Energiepreise verdreifacht. Die Leute wissen nicht mehr, wie sie das zahlen sollen.

    Angst vor Fremden und ums Geld also…

    Tellkamp: … dazu kommt ein dritter Punkt, der tief in die Identität geht. Das ist Bewahrung unserer Kultur, die sichtbar angegriffen in der Genderei wird, im Wokeismus. Bei der Sprache sind viele empfindlicher, als ich dachte. Wenn amtliche Schreiben gegendert werden, das bringt viele in Rage. Die schicken die durchgegenderten Schreiben einfach ans Finanzamt zurück.

    Typisch ostdeutsche Themen sind das allesamt nicht. Im bayerischen Stimmkreis Günzburg erhielt die AfD bei der Landtagswahl zuletzt 23 Prozent. Und Markus Söder würde ja nicht so gegen das Gendern zu Felde ziehen, wenn er nicht wüsste, das trifft einen Nerv.

    Tellkamp: Ein Opportunist, der Mann, in allem. Sie haben in Bayern sicher noch ein größeres Polster, nicht nur finanziell, ich meine auch ein größeres mentales Polster. Sie haben 70 Jahre Frieden, ohne einen großen Umbruch. Das ist hier anders. Viele haben heute Deja-vue-Erlebnisse. Menschen in meinem Alter sind derzeit die tragende Schicht in der Gesellschaft, und das prägende Erlebnis unseres Lebens ist die Wendeerfahrung. Und da kommt heute vieles wieder. Da ist die doppelte Sprache, dass man vorsichtig ist, mit wem im Betrieb man wie redet. Auch so ein Überbleibsel der DDR – im Zweifel hält man den Mund. Wenn man in der DDR die Wohnung verließ und kein Genosse war, dann wurde man gleichsam Soldat. Für den ist alles fremd und alles Gefahr. Dann musste man ständig aufpassen, wo sitzt der Heckenschütze? Wie tarne ich mich, alles ist potenziell Schussfeld. Das kommt wieder. Genauso wie die Wut auf die da oben. Die Wut darüber etwa, dass wir eine Regierung haben, die von der Mehrheit der Menschen nicht gewollt ist.

    Die Regierung ist ja zunächst mal von Menschen gewählt.

    Tellkamp: Kretschmer ist gewählt, was er zusammenkoaliert, ist nicht gewählt.

    Die Mehrheit in Sachsen will also nicht CDU, SPD und Grüne…

    Tellkamp: … sondern ein Bündnis aus CDU und AfD. So ist das, das sind etwa zwei Drittel. Und stattdessen bekommen sie bei der Landtagswahl im September wohl eine Koalition aus CDU und BSW. Anstatt mit der AfD muss Kretschmer, der Ziehsohn von Tillich, mit einer Partei koalieren, die die Nach-Nachfolger der Mauerschützenpartei ist, einer Partei, die wir vor 30 Jahren weggejagt haben und die heute wieder Ulbricht-Kommunismus predigt. Das wollen die Menschen nicht.

    Und dennoch: Bei all dem Ärger übers Gendern und die Energiepreise muss man doch nicht gleich die AfD wählen, eine Partei, die vom Verfassungsschutz in vielen Landesverbänden als gesichert rechtsextrem eingestuft wird? Wo ein Björn Höcke prägend ist, der der Nazi-Vergangenheit offen huldigt...

    Tellkamp: … was sagt er denn, der Höcke? „Alles für Deutschland“? Und was ist so schlimm daran?

    Fragen Sie das im Ernst? Das ist eine Parole der SA, von Hitlers Schläger- und Mordtruppe.

    Tellkamp: Woher wissen Sie das?

    Dass das der Leitspruch ist, die zentrale Losung, ist eine historische Tatsache. Ob Höcke das bewusst war, als er den Spruch zitierte, darum drehte sich der Streit vor Gericht. Er wurde für den Gebrauch der Parole zweimal verurteilt.

    Tellkamp: Genau. Das Gericht kann in Björn Höckes Kopf sehen und verurteilt ihn. So kommt das bei den Leuten an.

    Fällt Ihnen das eigentlich auf? Früher, in der Schule standen Sie für ein Mädchen auf, das wegen seines Ausreisegesuchs gebrandmarkt werden sollte, heute halten Sie den Kopf für einen wie Björn Höcke hin…

    Tellkamp: … da werten Sie schon wieder! Woher wissen Sie, dass das Mädchen damals mehr „wert“ war als der Höcke heute? Diese Zuteilung von Gut und Böse von dritter Seite, das ist es, was die Leute stört. Was ist Böse daran, zu sagen: Alles für Deutschland? Dass es die SA gebraucht hat? Und wer weiß das? Keiner. Ich habe mit Geschichtsprofessor Rödder gesprochen, der sagte: Ich kannte das nicht. Und der Höcke als ehemaliger Geschichtslehrer soll es wissen? Sie machen aus dem Mann einen Popanz. Das ist ein Fantast, ein Patriot, politischer Romantiker, das ist sicher nicht ungefährlich. Aber ich habe Zweifel, ob das überhaupt ein Rechter ist. Mit seinem Sozialpatriotismus ist er eher bei Sahra Wagenknecht gut aufgehoben.

    Ihr Landsmann Marco Wanderwitz aus Chemnitz, der für die CDU im Bundestag sitzt, sieht das – wie viele – ganz anders. Er will ein Verbotsverfahren gegen die AfD anstreben. Er sagt, die Mehrzahl der AfD-Wähler im Osten habe eine gefestigt rechtsradikale Gesinnung und sei für die Demokratie nicht mehr zu gewinnen.

    Tellkamp: Ich halte das für absurd. Ich halte es für falsch, und ich halte das eines Demokraten unwürdig, wenn er mit Verboten hantiert, weil er sich nicht mehr anders zu helfen weiß. Natürlich gibt es Radikale, natürlich gibt es auch Idioten. Natürlich gibt es die. Aber die machen keine 20 Prozent aus. Das erlebe ich nicht, das sehe ich nicht, das erfahre ich nicht. Wanderwitz muss klar machen, mit wem er spricht, wen er für extremistisch hält und was seine Kriterien sind. Ich würde ihm entschieden widersprechen.

    Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat zuletzt ebenfalls Mittel des Rechtsstaats benutzt und das rechtsextreme Compact-Magazin verboten, ein Magazin, das gegen Jüdinnen und Juden hetzte und zentrales Sprachrohr der rechtsextremistischen Szene sei.

    Tellkamp: Auch das: ein Unding! Frau Faeser macht nichts gegen Hass und Hetze, sie macht etwas gegen Dinge, die Sie hasst. Compact mag schlimm sein, ich kenne es nicht, aber das muss eine freie Gesellschaft ertragen. Ich finde es auch schäbig, wie Sie als Presse reagieren. Sie müssten wie ein Mann hinter Artikel 5 des Grundgesetzes zusammenfinden. Sie müssen sagen, Herrn Elsässer, den Compact-Chef, den finden wir zum Kotzen. Aber wir stehen zu Artikel 5, der Pressefreiheit. In der Spiegel-Affäre hat das geklappt, Franz Josef Strauß musste gehen. Frau Faeser bleibt im Amt, obwohl sie untragbar ist. Zu wissen, was moralisch richtig ist – das regt die Leute auf.

    Uwe Tellkamp wurde mit seinem Roman „Der Turm“ berühmt.
    Uwe Tellkamp wurde mit seinem Roman „Der Turm“ berühmt. Foto: Michael Wagner

    Ein Ergebnis scheint zu sein, dass nicht nur die AfD, sondern auch das BSW große Erfolge feiern wird. Womit punktet Sahra Wagenknecht?

    Tellkamp: Vor allem konservative Herren sind von Wagenknecht schwer beeindruckt. Warum? Weil sie Form hat, gewählt spricht und etwas Aristokratisches darstellt. Und das Aristokratische ist das, was am wenigsten vorkommt in unserer Politlandschaft. Konservative Herren schätzen das. Dabei ist völlig rille, was Wagenknecht erzählt. Konservative lassen sich von ihr betören, weil sie ein maßgeschneidertes Kostüm trägt. Entscheidend aber: Wagenknecht vertritt die von SPD und Linken verratene Klientel, nicht wenige Positionen der AfD, ist aber „eine Gute“, sie ist nicht stigmatisiert.

    In diesem Jahr jährt sich die friedliche Revolution in der DDR zum 35. Mal. Ist die Wiedervereinigung geglückt?

    Tellkamp: Ja, die ist geglückt. Ich habe diese Diskussionen auch in meiner Familie. Ich hatte mal eine Debatte mit einem, der der Meinung war: In der DDR waren wir früher so homogen, und das war alles friedlich und toll, da habe ich ihm gesagt: ‘Pass mal auf, das war so homogen, dass du im Jahr X ausgereist bist. So toll war das hier.’ Und zweitens: ‚Wenn Ihr glaubt, eine homogene Gesellschaft sei die friedlichere, dann will ich dir nur eines sagen: Die Stasi hat genauso gesächselt wie wir. Das ist ja das Perfide, auch die Stasi war Teil dieser Heimat, die Akten sind voll davon.

    Sie wurden einmal gefragt, was Sie machen würden, wenn sie König von Ostdeutschland wären. Sie antworteten, dass Sie wesentlich liberaler regieren würden, als Ihnen viele das unterstellten.

    Tellkamp: Ich würde die Leute weitgehend machen lassen. Ich würde nicht dauernd übergriffig reinquatschen, was man essen muss, was man heizen muss, wie man reden muss, was man jetzt zur Welt-Erlösung beitragen muss. Und wenn mir ein Schriftsteller wüst gegen die Kandare fahren würde, dann würde ich zu Hause rumtoben oder sagen: Dieses Arschloch kommt in den Bau! Aber in der Realität würde ich das nicht machen. Ich würde es mit dem letzten sächsischen König Friedrich August halten, der sagte, ‚macht Euern Dreck alleene’.

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    4 Kommentare
    Wolfgang Steger

    Herr Tellkamp hat mit " Der Turm " einen grandiosen Roman geschrieben. Seine politischen Äußerungen sind allerdings schwer ertragbar. Wie kann er Herr Trump, der Wahlen nur anerkennt, wenn er sie gewinnt, ein " gewisses Format " zusprechen. Kennt Herr Tellkamp die anderen Aussagen von Herrn Höcke nicht, wenn er ihn in Bezug auf dessen Aussage " alles für Deutschland " verteidigt. Herr Tellkamp verharmlost faschistoide Tendenzen im Inn- und Ausland und ist damit ein Teil der Neuen Rechten Bewegung.

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    Wolfgang Leonhard

    Herr Steger, Danke für Ihren Kommentar, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Der Mann merkt anscheinend gar nicht, auf welchen Abwegen er sich befindet.

    Johann Storr

    Ein sehr interessantes Interview, danke. Der Herr Tellkamp macht ja echt auf naiv. Ich habe mir etliche Videos der AfD mit Reden von Höcke angeschaut. Herr Höcke redet von einem neuen tausendjährigen Reich, fabuliert von Auschwitz und beschwört rassistische Tugenden. Und Herr Tellkamp findet, man soll diesen bekennenden Faschisten nicht so schlecht behandeln.

    Michael Nährig

    Ich lebe in der Nähe von Dresden und habe "Der Turm" gelesen und genossen! Wunderbare Literatur! Auch die Verfilmung war super! Sein zweites, von mir ersehntes Werk, "Der Schlaf in den Uhren" konnte mich noch nicht so recht überzeugen. Leider, finde ich, ist er wie so einige hier, wie zum Beispiel Herr Steimle vom rechten Wege abgekommen BSW, Entschuldigung natürlich bzw. auf den rechten Weg geschlittert. Die Herr Künstler fühlen sich missverstanden und unterdrückt, aber was sie Unterdrückung nennen sollte ihnen aus der ehemaligen DDR noch bekannt sein!

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